Nabucco

Seit Wochen scheint die Sonne. Von Tag zu Tag wärmer und länger. Es wird zu
früh hell und viel zu spät dunkel. Verena sitzt auf der Terrasse. Der Himmel in
seinem leeren Blau und das Zwitschern der Vögel beleidigen sie. Sie spürt
wieder dieses dumpfe Gefühl, überschlafen zu sein. Es wohnt irgendwo
zwischen Stirn und Schädeldecke, tut nicht weh und speist sich aus Langeweile
und Einsamkeit. Vom Nachbargarten klingt Kinderlachen. Die Eltern haben das
Gequengel nicht mehr ertragen und für ihren Sohn zwei Spielfreunde
eingeladen. Trotz Kontaktverbot.
Aus der Ferne nähert sich der Pritschenwagen des Schrotthändlers. Blechern
hallt seine Erkennungsmelodie durch die fast menschenleeren Straßen des
Wohngebietes. Nabuccos Gefangenenchor. Verenas Jahrgangsstufe hat ihn vor
36 Jahren zur Abi-Feier aufgeführt. Der Chor hebt an.

Flieg Gedanke!

Sie blickt hinüber zum Wäscheständer. Was dort flattert, ist viel mehr als nasser
Stoff, den Sonne und Wind in trockenen Stoff verwandeln. Es zeugt von
wichtigen Ereignissen und Lebensphasen. Bunte Strampler, Spucktücher,
winzige Bodies, dazu Stilleinlagen – ein Baby. Partnerbettwäsche –
regelmäßiger Übernachtungsbesuch. Strandlaken, Bikinis und Badehosen –
Urlaub. Sie seufzt. Der ist in diesem Jahr gestrichen.
Stoffmasken – Pandemie! Wie lustige Wimpel bewegen sich die pastellfarbenen
Mund-Nasen-Schutze (Schütze, Geschütze?) im Wind. Verena geht zum
Wäscheständer und lässt ihre Hände über den Stoff fahren. Trocken. Sie nimmt
die Masken von der Leine und kehrt an ihren schattigen Platz zurück. Beim
Glattstreichen wandeln sie sich unter ihren Fingern zu kleinen Hängematten,
gerade passend für die Puppenstubenpuppen. Papa hat sie liebevoll die
„Lumpen“ getauft. Sie erinnern ihn an die Figuren, die seine Mutter im Krieg für
die Kinder aus Stoffresten gefertigt hat.
Sorgfältig befestigt Verena die elastischen Haltebänder an zwei Bambusstäben
und lässt die „Lumpen“ schaukeln. Die Jungen, Olaf und Ralf, hat sie nach zwei
Schulkameraden benannt, in die sie sich gleich im ersten Schuljahr verguckt
hat. Die Mädchen heißen Yvonne und Sabine. Beim Spielen überkommt sie
eine bleierne Müdigkeit. Von weit entfernt dringt Gesang an ihr Ohr.

Lass‘ dich nieder in jenen Gefilden, wo in Freiheit
wir glücklich einst lebten.

Vor ihrem inneren Auge sieht sie den Dirigenten. Er lenkt ihren Blick auf die
Maskenbänder. Verena bugsiert Olaf und die anderen unter Protest aus der
Hängematte. Sie schnuppert. Der Geruch lässt die Gummitwist-Nachmittage
ihrer Kindheit wieder lebendig werden. Abwechselnd mit ihren Freundinnen
springt sie eine festgelegte Abfolge von Figuren, das Gummi mal unter, mal
zwischen den Füßen. Knöchelhoch. Kniehoch. Hüfthoch. Dabei singen sie
„Empompi Kolonie Kolonastik Empompi. Kolonie! Akademie Safari Akademie,
Puff Puff!“ Sie fühlt sich leicht wie eine Feder! Manchmal bringt ihnen die Mutter
Tri Top-Limonade zur Erfrischung.

Wo die Heimat uns’rer Seele ist.

Langsam wird der Chor vom Toben und Lachen der Nachbarskinder übertönt.
Verena räkelt sich und schaut in das unendliche Firmament. Keine
Kondensstreifen zerschneiden den Himmel. Aber er ist nicht leer! Unter ihrem
bisherigen Radar heben sich Vögel in die Luft, landen auf dem Zaun oder
hüpfen über den Rasen. „Pfeifen, zwitschern, tirilieren“, geht es ihr durch den
Kopf. Am Teich hat sich eine Elster zum Trinken niedergelassen, aus sicherer
Entfernung von einer Kohlmeise beäugt. Wie schnell sie mit den Augen blinzelt.
Begleitet von einem „Tsi-da, Tsi-da“ steigt der kleine Vogel unvermittelt auf und
landet in der Zierkirsche.
Die Nachbarskinder stehen am Zaun und beobachten gebannt das Schauspiel
der Vögel. Verena räuspert sich.

„Habt ihr Lust auf ne Runde Fanta?

© Susanne Wirtz