Schlangenbeschwörung

„Wir müssen unbedingt noch Safran kaufen!“ rief Carola begeistert, als sie bei Sonnenuntergang über den orientalisch bunten Platz schlenderten. Peter schob seine Frau durch das Gedränge. „Ja, ja, ich weiß.“

Der Reiseführer hatte nicht übertrieben. Bei all den fliegenden Händlern, Wahrsagern, Akrobaten und Gauklern fühlte man sich in ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht versetzt.

Aber Peter hatte heute keinen Sinn für Romantik. Er horchte konzentriert, bis er sie endlich hörte, die seltsam leiernde Melodie des Schlangenbeschwörers. Dann fasste er Carolas fleischigen Arm. „Komm hier entlang.“ Sie zögerte. „Meinst du, dahinten gibt es Safran?“ Er grinste und zog sie mit sich. „Na klar.“

Erleichtert stellte er fest, dass sie auf dem richtigen Weg waren, denn die unverwechselbaren Klänge kamen näher. Jetzt konnte auch Hassan, mit dem er alles abgesprochen hatte, nicht mehr weit sein. Hassan war Taxifahrer und Fremdenführer für Touristen mit besonderen Wünschen und hatte Peter und Carola schon eine Woche lang herumkutschiert.

Plötzlich blieb Carola stehen. Sie deutete auf ein Trüppchen Männer, die in ihren bunt glitzernden Trachten herumwirbelten. „Guck mal da, sind das Derwische?“- „Keine Ahnung“, antwortete Peter unwirsch und zerrte vergeblich an Carolas Arm. – „Lass uns doch ein bisschen zuschauen.“

Es passte überhaupt nicht in seinen Plan. Je länger Carola den Tänzern, entzückt klatschend, zusah, desto nervöser wurde Peter. Unentwegt strömten Schaulustige auf den Platz, so dass die Luft über dem immer noch heißen Pflaster dampfte. Die Schwüle und der anschwellende Lärm machten Peter zu schaffen. Und dann verstummte zu allem Unglück auch noch das Flötenspiel des Schlangenbeschwörers.

Als Carola endlich weitergehen wollte, wusste Peter nicht wohin, denn ohne die Musik konnte er sich nicht orientieren. Vor Aufregung wurde ihm der Mund trocken. „Ich will erst mal einen Tee trinken.“ Sie ließen sich am nächsten Getränkestand aus einer Kupferkanne süßen Pfefferminztee in kleine Gläser gießen.

Ausgerechnet in diesem Moment erklang die Melodie des Schlangenbeschwörers von neuem. Peter hatte keine Zeit zu verlieren. Er kippte seinen Tee in einem Zug herunter und nahm Carola das halb leere Gläschen aus der Hand. „Komm weiter. Du willst doch noch Safran kaufen.“ Sie verzog das Gesicht. „Dass du immer so hetzen musst.“ Aber sie folgte ihm willig in ihrem Einkaufsfieber.

Die monotone Musik wurde lauter, ein untrügliches Zeichen, dass sie ihrem Ziel näher kamen. Wenn Peter sich reckte, konnte er den Schlangenbeschwörer schon sehen, wie er sich Flöte spielend über einen bauchigen Flechtkorb beugte. Ein gutes Dutzend Zuschauer standen im Halbkreis um ihn herum.

Jetzt durfte nichts mehr dazwischen kommen. „Ich rieche schon die Gewürze!“ schrie Peter Carola ins Ohr. „Geh zu“, erwiderte sie und schnaufte ein bisschen, denn sie war nicht die Schlankste. Mit ihren molligen Hüften, der rosigen Haut und den blonden Locken zog sie hier alle Männer an. Aber Peters Typ war sie nicht, er schwärmte für dunkle Schönheiten wie Naomi Campbell. Carola hatte er nur geheiratet, weil sie eine gute Partie war.

Schweigend marschierten die beiden weiter, bis Carola stutzte. „Das hört sich so an, als wäre da vorne ein Schlangenbeschwörer. I gitt, lass uns einen Bogen machen.“ Peter wusste nur zu gut, dass sie eine krankhafte Angst vor Schlangen hatte, eine regelrechte Phobie. Er widersprach ihr dennoch: „Nein, Liebling, dann verliere ich total die Orientierung. Aber ich pass schon auf, dass dir keine Schlange zu nahe kommt.“

Mit sanftem Druck schob er sie weiter. Es waren ja nur noch ein paar Schritte. Von weitem entdeckte er Hassan an einer Ecke des schmuddeligen Teppichs, auf dem der Schlangenbeschwörer seine Kunststückchen vorführte. Wie vereinbart, hob Peter die linke Hand, um sich anzukündigen. Hassan nickte unauffällig mit dem Kopf. Das war das Zeichen, dass er und seine Freunde bereit waren. Peter hatte sie für ein lächerliches Bakschisch gewinnen können, bei diesem Streich mitzumachen. Denn im Orient beweisen die Männer einer Frau nur allzu gern, dass sie das schwache Geschlecht ist, erst recht einer selbstbewussten Blondine wie Carola.

Schon wurden die beiden von finsteren Gestalten umringt, die sie in Richtung Schlangenbeschwörer abdrängten. Entweder hatte Carola es noch nicht gemerkt oder sie begriff, dass es unmöglich war, sich dagegen zu wehren. Peter war jedenfalls froh, dass alles so schnell ging und er ihr kein Theater vorspielen musste.

Ehe er sich versah, standen sie direkt vor dem Schlangenbeschwörer, einem faltigen Mann mit Turban. Er hatte eine Kinderarm dicke, braun-gelbe Kobra aus dem Korb gelockt. Mit ihrem schildartig aufgeblähten Kopf vollführte sie schlingernde Bewegungen, als horche sie auf die Flötenklänge. Dabei hatte Peter irgendwo gelesen, dass Schlangen sehr schlecht hörten und es eher der sich wiegende Oberkörper des Schlangenbeschwörers war, der die Schlange reizte. Im Grunde war es ihm egal. Es spielte auch keine Rolle, ob man ihr die Giftzähne herausgebrochen hatte. Carola hatte eine Schlangenphobie und ein schwaches Herz. Das sollte bei dieser Hitze genügen.

Mit einmal verstummte die Flöte. Der Schlangen-beschwörer ergriff die etwa anderthalb Meter lange Schlange mit beiden Händen in der Mitte und hielt sie hoch. Links baumelte das sich ringelnde Schwanzende herunter und rechts das züngelnde Kopfende. Peter fand den Anblick so ekelhaft, dass sich ihm der Magen umdrehte. Warum Carola immer noch keinen Laut von sich gibt, fragte er sich. Ob die Angst ihr die Sprache verschlagen hatte?

Sie wird gleich einen Schock bekommen, wenn der Schlangenbeschwörer ihr das fiese Ding um den Hals legt, dachte Peter, und wenn nicht sofort ärztliche Hilfe kommt, wird die arme Carola es nicht überleben. Er fand seinen Plan genial. In diesem Chaos konnte kein Rettungswagen zu ihr durchkommen. Außerdem hatte er sich erkundigt, es gab hier kaum Notärzte, und das nächste Krankenhaus war sechzig Kilometer weit entfernt.

Die Spannung stieg. Der Schlangenbeschwörer ging auf Carola zu und legte ihr wortlos die Schlange um den Hals. Peter hatte sich in den letzten Tagen wohl hundertmal vorgestellt, wie Carola kreischen und um sich schlagen würde. Aber erstaunlicherweise blieb sie ruhig, wahrscheinlich wagte sie nicht zu atmen. Auf einmal tat sie ihm richtig Leid. Hoffentlich würde ihr Herz bald versagen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und schloss für einen Moment die Augen.

Als er sie wieder öffnete, stand Carola vor ihm und strich mit beiden Händen über den Schlangenleib. „Die Haut fühlt sich richtig gut an, schön warm und trocken, gar nicht glitschig.“ Peter war sprachlos. Erst jetzt bemerkte er, dass Hassan neben ihr stand und ihr zuzwinkerte, als würden die beiden sich gut kennen.

Dann hörte Peter wieder Carolas Stimme. „Und jetzt du, Peter!“ Hassan übersetzte es für den Schlangenbeschwörer. Darauf nahm der Carola die Schlange ab und stellte sich mit der aggressiv züngelnden Kobra vor Peter hin. „Nein, nein, gehen Sie weg damit!“ schrie Peter in wilder Panik. Er wollte flüchten, aber er und Carola waren immer noch umzingelt. Er hatte die Männer ja selbst dafür bezahlt. Das Grölen der Umstehenden wurde lauter, sie feuerten den Schlangenbeschwörer an, dass er es endlich tun sollte.

In dem Moment, als Peter den sich windenden Leib der Schlange in seinem Nacken spürte, wurde ihm die Brust entsetzlich eng. In Todesangst rang er nach Luft. Dann wurde ihm schwarz vor Augen, und er brach auf dem harten Pflaster zusammen.

© Gaby Braun