Nacht

Es war stockdunkel, als Katja die Strasse betrat – sie musste nach Hause, da gab es nichts.
Sie musste dadurch. Und wusste nicht wie. Ein Auto hatte sie nicht, Bahnen fuhren nicht mehr, in dieser Gegend war das sowieso schwierig, weil die Haltestellen weiter weg lagen. Bleiben war nicht möglich – es gab zu viel, dass sie von diesem Ort trennte. Also – Füsse in die Hände genommen und losmarschiert. Sie versuchte, in dem nebligen Dunkel Schatten zu erkennen, die Häuserschluchten an beiden Seiten der Strasse waren hoch, der Nachthimmel drang nicht durch die Nebenschwaden durch. Von Mond und Sternen keine Spur. Langsam, fast tastend, ging sie an der Häuserwand entlang – Schritt für Schritt – in kleinen Gänsefüsschen-Schritten kam sie voran. Es war still. Fast zu unheimlich. Sie zitterte. Katja wusste, wie musste weiter. An der nächsten Strassenkreuzung gab es zwar etwas mehr Licht, weil einige Laternen aufgestellt waren. Die Strasse war befahrener als die vorige. Nur – Menschen waren auch hier nicht mehr. Es schien, als seien die Bürgersteige hochgeklappt – alles lag wie ausgestorben da. Horch – sie hörte Schritte – sie erschrak aufs heftigste. Sie hielt an, die Schritte waren nicht mehr hörbar. Sie ging ganz leise weiter: Tapp – tapp – die Schritte folgten ihr. Wieder stand sie still – nichts zu hören. Spannung in ihr , die ihren Körper zusammenzucken liess, bei jedem Schritt, den sie hörte. Ihr Körper verkrampfte sich, ihre Beine wurden steif, sie musste sich überwinden, weiter zu gehen. Sehen konnte sie nichts, nur hören. Und da – war da was? Wieder diese Schritte! Sie gab sich eine Ruck und ging schneller. Die Schritte, die sie hörte, beschleunigten ebenfalls…
Sie bekam Horrorvisionen. War nicht neulich in dieser gottverlassenen Gegend ein Mädchen vergewaltigt worden? Tausend Gedanken schwirrten in ihrem Kopf. Sie zwang sich, hörte ihren Atem kaum, sah nur die weissen Atemschwaden aus ihrem Mund und ihrer Nase aufsteigen. Sie hatte schon von Anfang an ihren schweren Schlüsselbund in der Hand – als Waffe, dachte sie. Sie ging weiter. Sie wusste, eigentlich war der Weg nicht so weit, aber jetzt, mitten in dieser gespenstischen Nacht? Tappend, mehr fühlend an den Häusern entlang, schlich sie – immer diese Schritte im Ohr – waren es ihre eigenen? Vielleicht – aber sie war sich nicht sicher. An der nächsten Strassenkreuzung musste sie wieder in eine dunklere Strasse. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Verkrampft den Schlüsselbund haltend, auf jedes Detail horchend, tapste sie weiter. Da – da waren Laute – sie hörte Stimmen. Sie blieb abrupt stehen. Die Stimmen blieben, verstehen konnte sie nichts – nur einzelne Worte wie „heute“, „Geld“ oder „Nein“ drangen an ihr Ohr. Aber er gab keinen Zusammenhang. Auf Zehenspitzen schlich Katja weiter – die Worte wurden lauter, aber noch nicht verständlich: „Morgen“, „zusammen“ waren einzelne Begriffe, die sie erkannte. An einem Haus sah sie Licht und ein offenes Fenster, trotz der nassen, feuchten Nebelkälte.
Hier kamen die Worte her – sie erschlaffte – wie konnte sie sich so beunruhigen lassen!
Erleichtert und ruhiger ging sie weiter. Wieder wurde es still um sie – aber nun wusste sie, dass es nicht mehr weit war. Die letzten Meter lief sie, die Schritte hörte sie immer noch, mit ihrem eigenen Tempo – aber jetzt wusste sie, es waren ihre eigenen Schritte. Sie betrat den Hausflur und lehnte sich an die Wand – geschafft! Sie war zu Hause. Sie atmete tief durch, die Ängste fielen ab, sie fühlte sich gerettet und sicher. Sie wollte den Lichtschalter andrehen, als sich eine Hand auf ihren Mund legte und gleichzeitig eine um ihren Hals.

© Hilla Hombach (2008/2010)