Ein Auflösungsprozess

«Das Leben ist wie ein Apfel: erst wenn du hineinbeißt, weißt du, ob ein Wurm darin ist.» Ein Freund, der sich hin und wieder in der Rolle des Philosophen gefällt, hat mir einmal diesen Satz hingeworfen. Er war spezialisiert auf solche Sätze, und seine Lieblingsbeschäftigung bestand darin, in reicher Fülle Weisheitsbrocken auszustreuen, damit hungrige Geister nach ihnen schnappen sollten. Besonders Vergleiche hatten es ihm angetan. Jedesmal, wenn er die Baumkrone seiner Er­fahrung schüttelte, fiel meist ein Vergleich herunter, und einer begann wie der andere: «Das Leben ist wie – Doppelpunkt – …». Bei jeder Gelegenheit schlug er mir seine Doppelpunktsätze wie Keulen um die Ohren; und weil seine Vergleiche, deren kühne Zusammenhanglosigkeit mich oft genug verwirrte, fast immer nur dem einen, eben beschriebenen Muster folgten, wurden sie mir mit der Zeit doch recht lästig. Nicht, daß ich meinen Freund nicht gemocht hätte – es war nur so, daß es mich unangenehm berührte, wenn er wie ein pensionierter Schuldirektor auf dem Hügel seiner Erfahrung thronte und von dort auf mich herabsah. Er verschaffte sich die Gipfel­höhe seiner Überlegenheit dadurch, daß er mir immerzu vor Augen führte, wie unzulänglich ich doch sei.

Von seiner Warte aus mochte er recht haben, denn Erfahrung – ein Wort, das er oft benutzte – hatte ich nur wenig vorzuweisen. Aber ich glaubte nicht, daß Er­fahrung vom Alter, vom Erlebnisreichtum oder überhaupt von äußeren Faktoren abhing. Ich hielt die innere Bereitschaft für entscheidend, aufmerksam zu sein; Dinge anders als andere zu sehen – denn wem diese Aufmerksamkeit fehlte, der konnte von Erlebnissen berichten, nicht aber von Erkenntnissen.

Eines Tages konnte ich die Überlegenheit meines Freundes, die ich als Überheblichkeit empfand, nicht länger ertragen und dachte über einen Weg nach, ihm ein für allemal das Wort aus dem Mund zu nehmen. Der Plan wollte vorbereitet sein, denn ich wollte es auf eine Weise tun, die seinem Wesen entsprach. Es sollte ein Vergleich damit verbunden sein, einer, der alles übertraf, was meinem Freund je eingefallen war. Und als er mich nach einiger Zeit wieder einmal besuchte, ahnte er nicht, was ich speziell für diesen Anlaß vorbereitet hatte: eine Schüssel, gefüllt mit heißem Wasser, ein Stück Seife und ein Küchenmesser – das waren meine Requisiten, die in einem Nebenraum darauf warteten, hervorgeholt zu werden.

Wenn alles wie geplant vonstatten gehen sollte, durfte das Wasser in der Schüssel nicht zu kalt werden; eine Temperatur von etwa 60 Grad Celsius war am besten. Zwar verspürte ich eine gewisse Unruhe, als mein Freund kam, sich arglos setzte und wir zu reden anfingen; aber ich konnte sie überspielen, denn ich wußte, daß die Warmhalteplatte, auf die ich die Schüssel gestellt hatte, zuverlässig funktionierte. Meine Gedanken waren so beschäftigt, daß ich weder darauf achtete, was mein Freund sagte, noch auf das, was ich ihm antwortete; alles, woran ich denken konnte, waren das heiße Wasser, die Seife und das Messer.

So saß ich da, nach außen scheinbar untätig und doch bereit, jederzeit zu handeln. Das Stichwort mußte fallen, es war unvermeidlich. Fast ahnte ich schon, wie das Gespräch darauf hindriftete – ich brauchte nur noch ein paar Worte, scheinbar ganz belanglos, zu sagen, damit es das Ziel erreichte. Nur ein kleiner Stoß, und der entscheidende Satz würde fallen, nicht ein einziger Doppelpunkt konnte mir entgehen. Dann würde ich es tun…

Und es geschah! «Das Leben ist wie – Doppelpunkt – …»! Mehr hörte ich nicht, es war mir gleich, wie der Satz weiterging. Mit der Bitte, mich einen Augenblick zu entschuldigen, stand ich auf, um in den Nebenraum zu gehen. Der Zeitpunkt war günstig, das Wasser besaß noch immer die richtige Temperatur. Die Schüssel war nicht groß, ich konnte sie ohne Mühe in einer Hand tragen. Auch das Stück Seife und das Messer hatten noch in der einen Hand Platz. Darum ging alles sehr schnell. Nicht einmal zehn Sekunden waren vergangen, da hatte ich schon die Schüssel auf dem Tisch vor meinem Freund abgestellt. Er sah mich verständnislos an, denn er konnte nicht sehen, was ich hinter meinem Rücken in der Hand hielt. Als ich sie vor ihm öffnete, erschrak er leicht, und einen Augenblick schien mir, als wollte er aufspringen und zur Tür eilen.

„Bleib ruhig sitzen“, wies ich ihn an. „Ich möchte nicht, daß meine Tischdecke Spritzer abbekommt.“

Erbleichend sah er zu, wie ich die Messerklinge durch die Seife zog und ihr oberes Drittel dabei wie eine Scheibe abtrennte. Worauf ich achten mußte, war, daß die Schnittfläche möglichst plan blieb und einen scharf begrenzten Rand erhielt. Dieses abgeschnittene Drittel, das aussah wie der Kiel eines Bootes, behielt ich nun in der Hand und faßte es, mit der glatten Seite nach oben, behutsam um den Rand, während ich den Rest der Seife zusammen mit dem Messer auf dem Tisch ablegte.

„Paß gut auf, was gleich geschieht!“ sagte ich und ließ das kleine Boot aus Seife vorsichtig auf die Wasseroberfläche hinab, bis sein Kiel in die warme Flüssigkeit eintauchte. Nun hing alles davon ab, daß nicht ein einziger Tropfen die durch den Schnitt gebildete Bordkante überspülte. Ich mußte alle Sorgfalt aufwenden, denn das Boot sank bis zu dieser Kante ein; und es lag auf der Hand, daß jeder Wassertropfen, der dort hinaufgelangt wäre, es sofort hätte sinken lassen. Die scharfe Begrenzung erfüllte einen wichtigen Zweck: sie bewirkte, daß die Ober­flächen­spannung des Wassers rings um sie herum nicht unterbrochen wurde, sondern sich ein millimeterdünner Wall bildete, der das Wasser von der Oberfläche des Bootes fernhielt. Als ich fühlte, wie das Wasser sein Gewicht trug, ließ ich es los und zog unendlich langsam die Hand zurück. Und es schwamm!

Ich winkte meinen Freund dichter heran. Er trat zögernd näher, und ich bemerkte, wie er den Atem anhielt – nicht, weil ihn immer noch das Messer erschreckte, sondern weil ich dasselbe tat. Der kleinste Lufthauch hätte alles zerstört, denn was sich hier vor unseren Augen verkörperte, war das empfindlichste, labilste Gleich­gewicht, das sich denken ließ. Von einer Minute zur anderen war mein Freund verstummt; das zumindest hatte ich erreicht.

Ich fragte mich, ob es noch nötig sein würde, ihm zu erklären, wie labil das Gleichgewicht, das sich da vor uns entwickelte, tatsächlich war. Sicher wußte er, daß nicht etwa der Auftrieb das Schiffchen in der Schwebe hielt – was schlecht möglich war, weil Seife schwerer ist als Wasser – sondern daß es einzig und allein die Oberflächenspannung war, die das kleine Boot am Wasserspiegel festhielt, an dem es hing und sich von unten daran ansaugte. Und in demselben Wasserspiegel betrachtete ich nun das Gesicht meines Freundes und wartete auf ein Anzeichen von Verstehen oder Nichtverstehen. Hätte seine Aufmerksamkeit jetzt nachgelassen, ich hätte ihn entlarven können als einen, dessen Weisheit nur Verkleidung ist. Ich durfte erwarten, daß er das entscheidende Detail der Versuchsanordnung erkannte; und wie es schien, hatte ich ihn richtig eingeschätzt. Er enttäuschte mich nicht.

Also wußte er mit mir, daß die vermeintliche Stabilität, in der sich das kleine Boot befand, doch nur scheinbar war, und daß es sich unmöglich länger als eine gewisse Zeit an der Wasseroberfläche halten konnte. In Kürze würde es unweigerlich auf den Grund der Schüssel sinken – das stand fest, vom ersten Augenblick an, als es mit dem Wasser in Berührung gekommen war. Der Untergang war ihm sicher, genauso sicher, wie nach der Geburt der Tod wartet, und die Ursache war gerade dieselbe, die es jetzt noch schwimmen ließ: die Oberflächenspannung. Und noch etwas hing damit zusammen, etwas, das die Sache noch stimmiger machte: die Beschaffenheit des Schiffchens selbst. Denn es war ja aus Seife; und Seife hat die bekannte Eigenschaft, die Oberflächenspannung des Wassers aufzuheben. Die Seife also, die in jeder Sekunde, die das Boot auf dem Wasser schwamm, in Lösung ging, wirkte darauf hin, dieses labile Gleichgewicht immer unhaltbarer werden zu lassen. Die Temperatur des Wassers tat ein übriges, den Vorgang zu beschleunigen. Sie wirkte gerade auf jene Stelle, wo das Boot am verwundbarsten war: auf die dünne, scharfe Kante seiner Bordwand – ohne die allerdings, wie schon erwähnt, das Schiffchen gar nicht erst geschwommen wäre.

So hing alles zusammen. Alle Faktoren stützten sich und stürzten sich zugleich. Dem Leben des kleinen Bootes blieb nur eine kurze, gefährdete Frist. Dasselbe Wasser, das es trug, zehrte in all der Zeit, in der es das tat, an seiner Substanz, und verwendete das, was es ihm entriß, zu seinem Nachteil. In ihrem Bestreben, sich voneinander abzugrenzen, kamen sich die beiden Stoffe immer näher und gingen dabei ineinander über. Eins wurde Teil des anderen, verursacht gerade durch ihre unterschiedlichen Eigenschaften.

Wir sahen, wie eben dieser Prozeß vor unseren Augen ablief. Schon hatte sich das Wasser rings um das Schiffchen getrübt. Der Einfluß der Umwelt, in die es hineinversetzt war, machte sich bemerkbar: die Auflösung nahm ihren Anfang. Das Boot schwamm zwar noch und behauptete sich – aber es hatte seinen Preis dafür zu zahlen. Der milchige Schleier, der sich im Wasser verteilte und jede Sekunde größer wurde, zeigte deutlich an, wie die Zeit gegen das Schiffchen arbeitete. Der feste Körper, den das Seifenboot immer noch darstellte, hatte auf Dauer keine Aussicht, gegen das flüssige, aber fürchterlich geduldige Medium, in dem es trieb, zu bestehen. Schon brach der Wall aus Wasser, der die Bordkante bisher befestigt hatte, an manchen Stellen ein und bildete lauter kleine Bastionen, die sich auf die trockene Oberfläche vorschoben, sie verkleinerten, indem sie sich miteinander verbanden und so den Wall voranrücken ließen. Wenn man genau hinsah, konnte man den Wall erst niedriger, dann wieder höher werden sehen; das geschah immer wieder, in abwechselnder Folge. Der Bazillus des Todes hatte das Boot infiziert und breitete sich unaufhaltsam aus. Man weiß von diesem Bazillus, daß er ein erobertes Terrain nie wieder aufgibt.

Ich blickte kurz auf das Gesicht meines Freundes. Er bemerkte es nicht, denn er schaute nicht auf von dem Geschehen, das sich vor seinen Augen abspielte.

Das Schiffchen änderte seine Natur. Es wurde zu einer sinkenden Insel, über der sich das Wasser zu schließen anschickte. Die Kraft war deutlich spürbar, mit der es dieses Ziel verfolgte, obwohl seine Oberfläche ganz ruhig blieb und nicht einmal die Andeutung eines Wellenschlages da war. Jedes Zittern, jedes kaum merkliche Schwanken des Wasserspiegels, und das kleine Boot wäre augenblicklich in die Tiefe geglitten; so, wie jede Existenz in Zeiten heftiger Bewegung gefährdeter war als in der Ruhe. Aber am Ende würde das nichts ändern. Das unabdingbare Gesetz des Vergänglichen würde sich immer Geltung verschaffen, auch wenn es lange auf seine Stunde warten mußte.

Für das Seifenschiffchen war diese Stunde nun gekommen: nur noch ein kleiner, kreisrunder Fleck, wie die Fläche am stumpfen Ende eines Bleistifts, war noch nicht überspült, als es zu sinken begann. Für einen winzigen Augenblick wuchs der Wasserwall um diesen Fleck in die Höhe; er bewegte sich wie ein kleiner Mund, und es sah so aus, als wollte das Seifenschiffchen so etwas wie einen Atemschlauch mit sich nach unten ziehen, um die Verbindung zur Luft nicht zu verlieren. Aber das Aufbäumen war vergeblich. Das Wasser stürzte mit Macht in den keinen Mund und schnitt im Bruchteil einer Sekunde – als käme es darauf an – den Atemschlauch durch. Mit einer langsamen, seitwärts taumelnden Bewegung sackte das Schiffchen auf den Grund – oder war es eher ein Tänzeln, mit dem es in seinen Tod hinabtauchte, jeden Zentimeter auskostend? Ich hätte es nicht sagen können und schaute noch einmal verstohlen auf das Gesicht meines Freundes, um dort nach einer Antwort zu forschen. Ich sah eine Spur Betrübnis um seinen Mund – aber seine Augen schienen zu lächeln. Und ich fragte mich, weshalb.

Jetzt lag das Schiffchen still auf dem Grund, wo es sich bald auflösen würde, wie zum Zeichen dafür, daß der Zerstörungsprozeß sich auch nach dem Untergang noch fortsetzte. Warum lächelte mein Freund bei diesem Anblick, der doch fraglos bedeutete, daß das Wasser gesiegt hatte und das kleine Boot unterlegen war? Je länger ich dann aber die feinen weißen Schleier betrachtete, die es überall umgaben und wie Protuberanzen von ihm fortzüngelten, desto mehr verging die Hoffnungslosigkeit, die ich darin erblickte. Denn was geschah wirklich bei diesem Sich-Auflösen? Würde das Boot tatsächlich ganz vernichtet? Es hatte den Anschein, weil seine Form zerstört wurde. Aber es würde ja gar nicht spurlos verschwinden; nicht ohne daß es eine Wirkung in seiner fließenden, unbeständigen Umgebung hinterließ. Der Stoff, aus dem es bestand, der so anfällig und verletzlich war, würde, selbst wenn er sich bis zur Ebene der Moleküle zersetzte, seine Eigenschaften dennoch nicht verlieren. Er würde vielmehr, das Wesen des Wassers annehmend, seine Eigenschaft auf den anderen Stoff übertragen und in die neue Verbindung einbringen, die daraus entstand: er würde aus dem Wasser Seifenlauge machen. Am Anfang nur schwach, hatte ihre Konzentration ständig zugenommen, je mehr Material sich aus dem Seifen­schiffchen herauslöste. Am Ende war sie so stark, daß man nicht mehr von Wasser, sondern fast schon von flüssiger Seife sprechen mußte. Die weiße Wolke breitete sich wie ein Teppich auf dem Boden der Schüssel aus und schlug sich als dünne Schicht dort nieder. Die Lauge war übersättigt, so daß ein Teil der Seife nicht mehr in Lösung gehen konnte und sich auf dem Grund in neuer Gestalt zusammenfand, als wollte sie einen neuen Körper aufbauen, zum Ersatz für den zerstörten. – Jetzt verstand ich, warum mein Freund lächelte. Und wer weiß, vielleicht lächelte ich sogar auch…

Der ganze Vorgang, der Lebenslauf des Seifenschiffchens, vom Anfang über sein Ende bis zu seiner eindrucksvollen Auferstehung, hatte wohl gerade zehn Minuten gedauert. Zehn Minuten, in denen wir schweigend dagestanden waren, der Faszination erlegen, einen leibhaftigen Vergleich vor uns zu sehen. Nun wollte ich das Schweigen beenden und meinem Freund triumphierend jenen von ihm so oft gehörten Satz sagen – aber ich tat es nicht. Ich wartete darauf, daß er, der so gerne verglich, ihn aussprach, denn ich war sicher, daß er ihm schon auf der Zunge lag – der Satz: «Das Leben ist wie…» – Doppelpunkt – «… das da!»

© Jörg Wartschinski