Die Gezeichneten

Die stickig-feuchte Luft des tropischen Regenwaldes ließ jeden Schritt für Walter zur Kraftanstrengung werden, aber er versuchte, sich vor Resi nichts anmerken zu lassen. Ihr schien die Schwüle überhaupt nichts auszumachen. Dabei hatte er als junger Ingenieur für mehrere Jahre in dieser Gegend für eine Landerschließungsfirma gearbeitet. Heute war es für ihn kaum noch vorstellbar, wie er diese mörderische Hitze damals aushalten konnte.

Inzwischen hatte er Resi geheiratet und bei ihrem Vermögen nicht mehr nötig, solche Knochenjobs anzunehmen. Aber, wie seine Mutter immer schon sagte, alles hat Licht- und Schattenseiten. Resi wurde von Jahr zu Jahr exzentrischer und kam auf die verrücktesten Ideen für ihre Reisen. So hatte sie im Sommer darauf bestanden, in einem 3000 m hoch gelegenen buddhistischen Kloster mit Walter drei Wochen lang zu meditieren. Jetzt über Weihnachten, wenn normale Leute bei Kerzenschein und Glühwein sentimental wurden, zog es sie in den südindischen Dschungel, nur weil um diese Zeit irgendeine seltene Orchideenart blühte. Das konnte auf die Dauer kein Mann aushalten, zumindest kein Mann wie Walter, der abends gern Kneipenluft schnupperte oder zappend vorm Fernseher saß.

Also hatte er seine alten Verbindungen nach Indien genutzt. Die Leute im Süden waren immer noch sehr arm. Es kostete kein Vermögen, einen Mörder zu beauftragen, der Resi ins Jenseits beförderte. Damit kein Verdacht auf ihn selbst fiel, hatte Walter einen schlauen Plan entwickelt. Resi sollte von einer Schlange gebissen werden. An lebensgefährlichen Giftschlangen mangelte es hier wirklich nicht, und die Gegend war einsam genug, dass niemals rechtzeitig ärztliche Hilfe eintreffen würde.

Endlich hörte Walter von weitem das Rauschen des Wasserfalls. Dort sollte es passieren. Wahrscheinlich waren sie in dieser Frühe die einzigen Wanderer. Wenn noch andere blonde Touristinnen dort auftauchen würden, wäre das auch kein Problem. Denn Resi war leicht an ihrem großen Muttermal auf dem rechten Unterarm zu erkennen, das eigentümlicherweise die Form eines Schmetterlings mit ausgebreiteten Flügeln hatte. Der Mörder wusste Bescheid.

Der schmale Dschungelpfad krümmte sich noch einmal, es ging bergab, und urplötzlich öffnete sich der dämmrige Regenwald. Vor ihnen lag eine sonnendurchflutete Lichtung, im Halbrund von saftigem Grün und Felsen umschlossen. Von der höchsten Stelle stürzte ein Wasserfall in einen kleinen See, eine Art türkisfarbenen Whirlpool.

Walter hatte jedoch keinen Sinn für den malerischen Anblick. Er suchte die Lichtung nach dem Mann ab, der als Erkennungszeichen ein rotes Stirnband tragen sollte, und entdeckte ihn auch gleich auf einem der großen Steine am Seeufer. Zu dem roten Stirnband trug der Mann ein weißes Hemd und schwarze weite Hosen. Es war ein typischer Nordinder mit heller Haut und klassisch schönen Gesichtszügen. Sah so ein Killer aus? Dabei musste er ein ganz besonderer Killer sein, der auch noch mit Schlangen umzugehen wusste.

Kontaktfreudig, wie Resi war, lief sie mit einem englischen Hallo auf den Mann zu. Der sprang auf, schaute sie lächelnd an und nahm zögernd ihre ausgestreckte Hand. Walter beobachtete die Szene aus sicherer Entfernung.

Nanu, dachte er, der guckt vielleicht komisch, als ob er noch niemals ein Muttermal gesehen hat. Aber Resis dunkler Schmetterling stach ja auch ins Auge, und die Einheimischen kamen nicht mit so vielen Menschen in Kontakt.

Resi ließ sich auf einem Stein nieder. Der Mann stellte sich vor sie hin und redete auf sie ein. Walter konnte nichts von dem Englisch verstehen, weil der Mann ihm jetzt den Rücken zudrehte, und ging vorsichtig ein paar Schritte auf die beiden zu.

Mit einmal wandte sich der Mann zu ihm um. Erst jetzt bemerkte Walter, dass der Inder sein Hemd geöffnet hatte.

Mitten auf seiner Brust hatte er ein Muttermal in Form eines Schmetterlings genau wie Resi. Walter fasste sich an seine schweißnasse Stirn. War es real, was er sah, oder eine Halluzination? Hatte er in der Hitze vielleicht einen Kreislaufkollaps und fantasierte? Am ganzen Körper zitternd, starrte und starrte er auf das dunkle Mal.

Der Inder bückte sich flink und holte einen Flechtkorb mit Deckel zwischen den Steinen hervor. Walter ahnte voller Entsetzen, dass die Schlange darin versteckt war, aber er war immer noch wie gebannt und konnte keinen Schritt tun.

Dann schwenkte der Inder den Korb. Irgendetwas flog zischend durch die Luft, genau auf Walter zu. Noch ehe er begriff, fühlte er einen stechenden Schmerz im Oberarm. Ihm wurde schwindelig. Im nächsten Moment versagten ihm die Beine, und er sank zu Boden. Als er nach oben blickte, schwebte über ihm ein dunkler Schmetterling.

Bald kamen mehr und mehr Schmetterlinge angeflogen, bis es ganz dunkel um ihn herum wurde.

© Gaby Braun