Benzin

Die Vorbereitungen waren inzwischen weit gediehen. Deshalb war P. zu später Stunde noch wach, als es plötzlich und überraschend an der Haustür klingelte. Am alten Schreibsekretär seines Großvaters saß er und war stark beschäftigt. Alles im Haus schlief längst. Es ging auf Mitternacht. In tiefer Stille lag die kleine Stadt und diese Straße; bei ruhigem Herbstwetter schon seit Tagen mit jener ganz eigenen Atmosphäre, in der man alljährlich die kommenden Herbststürme vorausahnen konnte. Mit winzigen Zeichen kündigten sie sich an, so auch an der alten Blutbuche, die P.`s Haus gegenüber an der anderen Straßenseite stand. Schwache Windböen durchfuhren ihre Baumkrone in großen Zeitabständen und ließen ganz kurz doch merklich die Blätter rauschen. Dann wieder Stille, völlige Stille. Ab und zu in der Ferne auf einer Hauptstraße das charakteristische Zweitaktmotoren-Plappergeräusch eines der landesüblichen Automobile. Sonst nichts.

Eine der wenigen Straßenlaternen stand nahe dem Haus und gab ein schwaches Licht an diesem Herbstabend im November 1969. Schwer vorstellbar, daß um diese Zeit noch ein Besucher kommen könnte. Ein Irrtum vielleicht; jemand mußte sich in der Hausnummer vertan haben. Und wirklich Wichtiges hatte P. zu tun; all` seine Konzentration war gefordert, jede Ablenkung ärgerlich. Eine Reise bereitete er vor, eine von seltsamer Art und ohne Wiederkehr. Denn falls es eine Rückkehr gäbe, würde das bedeuten, katastrophal gescheitert zu sein. Alles sollte eine Endgültigkeit bekommen, wie sonst nur auf Friedhöfen üblich.

Die Rahmenbedingungen waren von einer staatlichen Obrigkeit gesetzt, aus deren Machtbereich hinaus die Reise P. und seine Freundin H. führen sollte; heimlich, unbemerkt und auf nimmerwiedersehen. Genau das aber war strengstens verboten und mit drakonischen Strafen bedroht. Schon viele waren erwischt worden und auf Jahre in den gefürchteten Gefängnissen verschwunden. Für alles, was mit Versuchen zum heimlichen Verlassen des Landes zu tun hatte, war eine gewaltige, quasi allmächtige Geheimpolizei geschaffen, die landläufig „Stasi“ genannt wurde. Die betrieb riesigen Aufwand, um Vorbereitungen solcher Reisen zu entdecken, zu vereiteln und in den Gefängnissen für Nachschub zu sorgen.

Hier war alles unentdeckt schon sehr weit gediehen und das war der Grund, weshalb P. noch nicht schlief, sondern seit Stunden hier saß. Seine sämtlichen Habseligkeiten durchforschte er, alle Papiere, Bücher, Briefe, Photos, persönliche Aufzeichnungen, Kalendernotizen, schriftliche Unterlagen jeder Art und Sorte, wie in einer selbst vorweggenommenen Hausdurchsuchung. Sollte das Unternehmen nun bald gelingen, wären H. und er verschwunden, würde die Stasi sofort bei Bekanntwerden dessen in ihren Elternhäusern aufkreuzen, aller zurückgelassenen Dinge sich bemächtigen, denn beide würden nichts mitnehmen können außer Hemd und Hose, Jacke und Schuhen. Alles würden sie hinter sich lassen und nach aller Vor-aussicht ihr Leben lang nie wiedersehen. Das war klar und wurde inkauf genommen als Preis, den die Umstände verlangten. Hier jedenfalls und bald schon dürfte die Stasi alles durchwühlen bis zum letzten Winkel, nach Namen und Adressen suchen, um Bezüge zum Fluchtereignis zu finden.Niemand wußte von dem Plan. Nicht die Eltern, nicht die Verwandten, auch kein einziger ihrer engsten Freunde. Doch jeden, der im Nachlaß namentlich erwähnt gefunden würde, konnte die Stasi sich vorgeknöpfen und durch die Mangel drehen. Auch wenn so ein Mensch in dieser Sache völlig ahnungslos war, konnte es dennoch schnell gefährlich werden, weil immer möglich, daß der eine oder andere ihrer Freunde ebenfalls heimlich etwas vorbereitete. Bei der Art des Verhörens, wie die Stasi es anstellte, konnte man leicht in Panik geraten, irgendeinen Fehler begehen und sich selbst mit anderen in die Katastrophe reißen. Als Gegenmittel blieb nur, alle Papiere genau durchzusehen, auszusortieren, auszutilgen und bereitzustellen zur Verbrennung in den nächsten Tagen.

Deshalb nun hatte P. hier am Schreibtisch einen dritten Schuhkarton mit flammenraubgeweihtem Papier zu füllen begonnen. Da klingelte der unbekannte Besucher ein zweites Mal. Über der Haustür lag das Zimmer im ersten Stock. Um nach draußen besser zu sehen, löschte er das Licht, trat zum Fenster, schob die Gardine ein Stück beiseite und sah nach unten. Der Schrecken des Augenblicks durchfuhr ihn als eisiger Blitz. Schlagartig zurückgeprallt, waren seine Kiefer gepreßt, Arme und Beine krampfhaft erstarrt. Unten stand, aufgetaucht wie aus dem Nichts, ein Geländewagen sowjetischen Typs, den auch die Volkspolizei gebrauchte und vor der Haustür zwei entsprechend Uniformierte. Ein letzter Bewußtseinsrest in der Starre war auf Flucht gerichtet. Sofort raus hier! Raus und weg! Durch die Hintertür in den Garten und weg! Ja, weg-weg, – doch wohin denn nur?! Außerdem: das kann nicht klappen, wenn sie hier vorn schon stehen, dann stehen sie auch hinten, dann ist alles umstellt. Plötzlich ein zweiter Schreck beim Gedanken: jetzt stehen sie auch bei H. an der Tür und greifen zu. Vor P.`s geistigem Auge das Bild, wie man sie im Knast in die Zange nimmt: „Es hat keinen Zweck mehr zu leugnen!! Wir haben auch Ihren Freund erwischt und der hat soeben gestanden! Durch Ihr hartnäckiges Leugnen dokumentieren Sie nur ein weiteres Mal Ihren verbrecherischen Charakter! Das wird noch Folgen haben – Sie verschlechtern Ihre Lage von Minute zu Minute!! Und mit Leuten wie Sie, da können wir noch ganz anders! Wir haben unsere Methoden, da wird Ihnen Hören und Sehen verge-hen!! Subjekte Ihrer Art haben bei uns schon auf Knien ge-bettelt, aussagen zu dürfen!!“

Nach diesen Gedanken ein anderer, den P. zunächst für neu hielt: …aber vielleicht, vielleicht ist alles … alles doch nur… nur ein Irrtum, vielleicht ein Versehen? Gleich wird alles… sich aufgeklärt haben… Diese Art Selbstbetrug hatte Tradition. Unzählige schon vor ihm hatten solches sich eingeredet während der vorausgegan-genen fünf Jahrzehnte. Wann immer auch diese oder jene oder sonstwelche Geheimpolizei vor der Tür stand, glaubten Verzweifelte Hoffnung zu schlürfen aus diesem trüben Becher. „Irrtum – ha – ha – haaa!! Ein Versehen, ja–ja !! Ach, wie lustig!!“ höhnte peinigend eine Stimme in P.`s Innerem und brüllte weiter: „Von wegen!! Keiner ist unschuldig!! Jeder ist verdächtig und am allerverdächtigsten sind die, die sich als unschuldig ausgeben!! Und dann stehst Du hier, Du fürchterlicher Einfaltspinsel in Deiner namenlosen Blödheit und willst Dir was einreden von Irrtum und Versehen und solchen Quatsch!! Ausgerechnet Du, der mittendrinsteckt in heikelsten Vorbereitungen, die ein Staatsverbrechen darstellen in Augen der paranoiden Obrigkeit! Du weißt doch: jede gelungene Flucht gilt für sie als blamable Niederlage, unerträglicher Autoritätsverlust. Auch deshalb sind sie so gewalttätig und unberechenbar! Faselst Du noch immer von Irrtum und Versehen, Du Unglücksmensch, Du Narr?!“ – Halt! Könnte es nicht doch einen Gesichtspunkt noch geben, der anderes möglich scheinen läßt? Wäre es nicht unklug aus Sicht der Stasi, ausgerechnet heute in dieser Phase unseres Unternehmens zuzuschlagen? Sollten sie die Vorbereitungen entdeckt haben, kann das nur durch Verrat oder Beschattung passiert sein. Dann aber wäre dies ein sehr dummer Zeitpunkt zum Zugreifen. Bei einem Geheimtreffen mit anderen Beteiligten etwa, oder beim Start des Unternehmens selbst, wäre es viel, viel lukrativer für die Stasi. Also, was ist: machst Du jetzt die Tür auf, oder versuchst Du ohne Aussicht auf Erfolg wegzurennen und Dich so erst recht verdächtig zu machen? Na – also. Dann versuch` mal so gut es geht, die Ruhe zu bewahren. Geh` mal ganz langsam und gemütlich runter zur Haustür….. P. ließ das Licht im Zimmer gelöscht, trat aus der Tür zur Treppe und schaltete das Flurlicht am Hauseingang ein. Jetzt wußten sie, daß jemand kommen würde. Langsam stieg er die Treppe hinab, durchquerte den geräumigen Haus-flur und kam über die letzten vier Steinstufen zur großen zweiflügligen Haustür. Er schloß auf, öffnete langsam einen Türflügel und sah…

© Reinhard Iben