Das Mädchen im roten Mantel

Geschickt fädeln deine zarten, kleinen Hände die bunten Holzperlen auf, die Mutter dir für die lange Zugfahrt von der Ruhr an die Weichsel gekauft hat. Vater lebt schon seit einem Jahr in Krakau. Er repariert die wichtigen Gleise nach Osten. Immer wieder werden sie von den Polen kaputtgemacht. Am Bahndamm erheben sich in hellem Lila stolz die ersten Weidenröschen. Es ist warm, aber du möchtest deinen Mantel lieber anbehalten.
In Krakau wohnt ihr in einer schönen, großen Wohnung. Du hast sogar ein eigenes Zimmer! Manchmal siehst du Wisiek und Jasiek, die polnischen Zwillinge aus dem Hinterhaus. „Chodzcie pograc w pilke?“ Willst du Ball spielen, rufen sie dir zu, wenn deine Eltern ausgegangen sind und du verloren am offenen Fenster stehst.

Das Mädchen im roten Mantel kennst du nicht. Es lebt mit einer Tante, den Geschwistern und drei anderen Familien im Stadtteil Podgorze in einem heruntergekommenen Haus. Der Mantel ist ihm schon lange zu kurz, Sicherheitsnadeln halten Kleider und Strümpfe zusammen. Oft schaut es der Straßenbahn nach. Ihre Fenster sind zugeklebt, niemand darf ein- oder aussteigen.
Eines Tages müssen alle aus ihren Häusern. Begleitet vom Gekläff scharfer Hunde werfen SS-Leute das letzte Hab und Gut der Bewohner aus den Fenstern, treiben zerlumpte Menschen zusammen, erschießen Strauchelnde und Zögernde. Das Mädchen irrt, vom mörderischen Tumult umgeben, durch die Straßen. Endlich schließt es sich einer Gruppe Erwachsener an. „Sie bringen uns alle um, Majdele, versteck dich!“, raunt ihm eine alte Frau zu. Es findet in einer leeren Wohnung Unterschlupf. Während es unter dem Bett kauert, summt seine dünne Stimme ein jiddisches Kinderlied.

Der schreckliche Ort liegt nicht weit entfernt von eurer Wohnung in der Litzmannstädter Straße. Hier ist es ruhig, allenfalls erhebt das Schoßhündchen der Eisenbahnerfrau von nebenan zaghaft seine Stimme. Sonntags nach der Kirche kehren die deutschen Familien in einem alten Gasthaus bei den Tuchhallen ein. Wenn du artig warst und versprichst, drinnen den Mantel auszuziehen, darfst du mit. Dann sitzt du an der reich gedeckten Tafel, die weiße Haarschleife fest auf feinem, blonden Haar. Von Zeit zu Zeit schaust du scheu zum Vater hinauf. Aber eigentlich fühlst du dich zwischen den Zigarre rauchenden Männern und ihren Likör nippenden Gattinnen sicher. Anders als in der Wohnung, wo es gefährlich steile Treppen gibt.
„Den Teller nicht aufessen? Widerworte geben? Du kannst was erleben!“, schreit der Vater außer sich vor Wut. Erst hagelt es Ohrfeigen, dann zieht er dich Richtung Treppe. Unten wartet der dunkle, kalte Kohlenkeller mit den Spinnen und Asseln. „Nein!“ Dein Arm wird länger, verzweifelt drängst du weg von der Treppe, weg vom dunklen, stufigen Schlund. Dann spürst du den Tritt in deinem schmalen Rücken und fällst in tiefe Dunkelheit. „Hier bleibst du, bis du schwarz bist!“, ruft er dir hinterher. Nach endlosen Stunden darfst du wieder nach oben. Die Mutter mustert dein tränen- und blutverschmiertes Gesicht. „Wenn du heulst, bist du noch hässlicher.“ Sie gibt dir ein frisches Handtuch. „So kannst du ja nicht rumlaufen!“

Bald nach der Räumung des Krakauer Ghettos liegt der rote Mantel auf einem Kleiderberg. Dahinter türmen sich in einigem Abstand ein Brillen- und ein Goldzahnberg. Du fährst zurück nach Westen und wirst erwachsen. Deine Krankheiten reihen sich auf wie einst die Perlen auf der langen Fahrt nach Krakau. Irgendwann kommen die Schmerzen. Sie haben fast ein ganzes Leben gebraucht, die Seele zu verlassen und deinen Körper zu erobern. Langsam kriechen sie von den Füßen an Beinen und Rücken empor, bis sie alles beherrschen und endlich den Schrei der Kinderseele übertönen.

© Susanne Wirtz