Unter Schwestern

Der Mann am Tisch lässt meine Schwester nicht aus den Augen, während er in der Nase bohrt. Er hat seinen Kuchen aufgegessen, die Gabel abgeschleckt und auf den Tellerrand gelegt. Ordentlich, den Griff nach rechts.
Esther zermanscht ihren Pflaumenkuchen mit der Hand und schiebt die Stücke in den Mund. Auf dem Kuchen sitzt eine Wespe. Sie krabbelt jedes Mal zur Seite, wenn Esthers Hand ihr nahe kommt. Und jedes Mal, wenn das geschieht, beugt sich der Mann erwartungsvoll nach vorn. Ich frage mich, ob ich etwas unternehmen werde, falls die Gefahr besteht, dass meine Schwester das Insekt verschluckt.
Esther sieht besser als ich. Das nehme ich zumindest an. Aber sonst ist sie viel schlechter dran.
„Man kommt mit allem irgendwie zurecht“, pflegte sie zu sagen, früher, als sie noch wusste, was sie tat.
Dabei war ich zu jener Zeit besonders blind. Blind und ahnungslos für das, was sie und Roland hinter meinem Rücken trieben.
Meine kleine Schwester. Ich sehe sie noch vor mir. Dünn wie ein Besenstiel. Die Straßenköterfarbe ihrer Haare. Die schiefen Zähne. Genauso schief wie die der Boxerhündin nebenan. Die kariöse Stelle vorne an ihrem Schneidezahn, in die sie ein Wattekügelchen zu schieben pflegte, das ihr beim Essen manchmal in die Suppe fiel. Sie war so reizlos, dass nicht einmal der sonst durchaus nicht wählerische Hartmut aus dem Nachbarhaus ihr Beachtung schenkte.
Ich erinnere mich an ihre trotzige Verbissenheit, mit der es ihr gelang, sich mir und meinen Freunden aufzudrängen. Und an die Worte unserer Mutter, die sagte, „nimm‘ sie halt mit, sie stört doch kaum.“
Doch jedes Mal, wenn sie dabei war, schämte ich mich für sie. Für ihr Aussehen, ihre Art zu sprechen und für ihr allzu offenkundiges Bestreben, sich in der Clique anzubiedern.
„Die spinnt doch“, sagten meine Freunde und gaben mir zu verstehen, dass ich mit ihr zusammen in dieser Gruppe nicht gern gesehen war.

„Bei uns ist ihre Schwester gut aufgehoben“, sagt der Pfleger.
Er hat die Türe mit dem Ellenbogen aufgestoßen, eine Thermoskanne in der einen und einen Stapel grüner Plastiktassen in der anderen Hand.
„Hier kommt der Kaffee. Möchten Sie auch welchen?“
Milchkaffee aus grünen Henkeltassen!
„Nein Danke“, sage ich.
Jetzt nimmt der Mann am Tisch den Finger aus der Nase. Ohne seinen Blick von Esther und der Wespe abzuwenden, deutet er in Richtung Thermoskanne und dann auf seine Brust. Er schlürft den bleichen Sud in großen Zügen, den kleinen Finger hat er abgespreizt.
„Ich auch nicht“, sagt Esther. Drei Worte nur, doch ich merke, wie viel Mühe sie diese Äußerung gekostet hat. Sie schiebt den Stuhl zurück und geht zum Fenster. Es ist nur angelehnt und lässt den Lärm des Rummelplatzes herein, an dem ich heute Mittag vorbeigekommen bin. Ein Potpourri aus Sirenen, Lautsprecherstimmen und Musik.
Von hinten sieht meine Schwester aus wie dreißig, in ihrem rosa Kleid und ihren Riemchenschuhen. Den Teller mit dem Kuchen hat sie mitgenommen und drückt ihn gegen ihre Brust.
Pflaumenflecken gehen nie mehr raus.
Roland füttert meine Schwester mit Pflaumen. Auf einer Wiese irgendwo im Odenwald schiebt Roland ihr die prallen Früchte in den Mund. Und ich bin schuld.
Ich lernte Roland an der Uni Frankfurt kennen, wo er als Assistent meines Professors angehenden Pharmazeutinnen den Kopf verdrehte. Ich ging ihm aus dem Weg. Bis er mir eines Tages im Flur des Institutsgebäudes entgegentrat.
„Ich habe ihre Arbeit zur chemischen Bestimmung menschlicher Pheromone gelesen“, sagte er. „Nicht schlecht, im Ansatz jedenfalls. Wenn sie das ganze noch spezifischer in Richtung humanmedizinischer Relevanz vertiefen, könnte man sogar die Möglichkeit einer Dissertation,…ich sage das jetzt alles rein hypothetisch, also, mit einer gewissen Verlagerung des Testverlaufes ergeben sich bestimmt ganz neue Perspektiven.“
Vier Wochen später zogen wir zusammen. In sein Appartement im vierten Stock. Ganz oben, unterm Dach. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, sah man den Main. Die Kähne, wie sie sich mit ihrer Last stromaufwärts mühten. Manchmal waren sie so schwer beladen, dass sie kaum mehr als eine Handbreit übers Wasser reichten.
Aus meiner Promotion ist nie etwas geworden, doch Roland machte seinen Weg. Zunächst Dozent und schon nach zwei Semestern bewarb er sich für eine Professur in Heidelberg. Als der Ruf dann endlich kam, feierten wir die ganze Nacht. Am Morgen schoben wir uns gegenseitig die steilen Stufen zum vierten Stock hinauf. Und dort, ganz oben, zwischen Tür und Treppe, hockte meine Schwester in ihrem grünen Parka und schlief.
„Leicht wie eine Puppe“, sagte Roland, als er Esther auf seinen Armen in die Kammer trug. Wie ein träges Tier rollte sie sich auf der Couch zusammen und ich schämte mich erneut für sie. Ihr kurzer Rock war hoch gerutscht und Roland starrte auf ihren weißen Hintern im schwarzen Spitzenslip.

„Pflaumenkuchen an das schöne Kleid“, sagt der Pfleger und wiegt den Kopf in einer theatralisch übertriebenen Gebärde.
Esther kneift den Mund zu einem schmalen Strich. Sie weigert sich, den Teller mit den Kuchenresten herzugeben.
„Geburtstagskuchen, Glückwunsch“, sagt meine Schwester.
„Das ist nun wieder typisch“, sagt der Pfleger. „So bockig wie ein kleines Kind. Soviel ich weiß, hat sie doch erst im Herbst Geburtstag.“
„Ja“, sage ich, „genau genommen am 16.Oktober“
„Auf dem Kuchen war eine Wespe“, sage ich. Der Pfleger zieht die Augenbrauen hoch. Ich zeige auf den Mann am Tisch, „er hat sie auch gesehen.“ Der Mann wiegt seinen Kopf mit ernster Mine. Ein bisschen übertrieben bedeutungsvoll. Genau wie Roland früher, wenn er mich provozieren wollte. Ich versuche, ihn mir vorzustellen, als alten Mann, gebückt, mit weißen Haaren oder kahl. Ich kriege es nicht hin.
Mit einem kurzen Ruck erobert sich der Pfleger den Kuchenteller, und während er die Brille auf die Stirne schiebt, mustert er die zermanschten Krümel.
„Ich sehe nichts“, sagt er und verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen, „bestimmt hat ihre Schwester sie schon verschluckt.“
Er stapelt alle Teller aufeinander, Esthers Reste obenauf.
„Sie macht es einem nicht gerade leicht“, sagt er. Als wenn er wüsste, dass sich meine Schwester inzwischen hinter seinem Rücken vor den Fernsehapparat aufgebaut hat. Statt der attraktiven Dame mit Streifenschürze, die den Mund bewegte, während sie in einem hohen Glasbehälter lautlos eine Soße oder Creme schlug, müssen jetzt alle meiner Schwester betrachten, die sich zur Musik des Rummelplatzes wiegt. Sie lächelt, fast liebenswürdig, und ihre Zähne sind makellos und weiß.

Es war das Erste, was sie sich von ihrem Selbstverdienten geleistet hat. Jeden Cent, der übrig blieb, steckte sie in die Behandlung ihrer Zähne.
„Ich investiere in meine Zukunft“, sagte sie und war bereit, jede Menge Unannehmlichkeiten zu erdulden. Manchmal kam sie schon am Mittag zu mir in die Apotheke und sagte, „es tut so weh. Du musst mir eines von deinen Mitteln geben, sonst halt‘ ich das nicht länger aus.“
Irgendwann gab ich ihr auch unseren Wohnungsschlüssel. Ich war es leid, mit anzusehen, wie sie den halben Tag in unserem Labor in einer Ecke kauerte, mit angeschwollenem Gesicht und schiefen Lippen. Außerdem wollte ich verhindern, dass sie mich zum Dank für meine Anteilnahme auch noch beklaute, was auch schon vorgekommen war.
Ich wusste wohl, dass Roland das niemals gebilligt hätte, doch er verbrachte ohnehin den größten Teil der Woche in Heidelberg.
Wenn ich am Abend in die Wohnung kam, war Esther meistens schon verschwunden und mein Kühlschrank leer. Einmal fand ich sie in meinem Bett. Total betrunken.
„Edles Tröpfchen“, lallte sie und mir war klar, dass sie in Rolands Weinreserven gestöbert hatte, die er ganz hinten in unserer Abstellkammer verwahrte, für eine besondere Gelegenheit.
An diesem Abend träumte ich, dass ich sie vor die Türe setzte. „Raus mit dir aus meinem Bett“, schrie ich sie an, „hau ab aus meiner Wohnung und am besten ganz aus meinem Leben.“ Ich war so wütend in diesem Traum, dass ich ihr einen Stoß versetzte. Da sah ich Roland auf der Treppe stehen. Er fing sie auf.
Eine Zeit lang respektierte Esther, dass ich und Roland unsere Ruhe haben wollten, wenn er für ein paar Tage in Frankfurt war. Doch an einem Fastnachtssonntag, abends gegen zehn, stand sie erneut vor unserer Tür.
„Ich kann nicht rein in meine Wohnung“, sagte sie, „meine Freundin und dieser Kerl…na ja, der kann mich gar nicht ab, und so wie’s aussieht bleibt er noch bis Aschermittwoch.“
Ich hörte Roland, hinter mir im Zimmer grummeln, dass er den Freund von ihrer Freundin richtig gut verstehen könne, und hörte mich, wie ich zu meiner Schwester sagte, „na, wenn das so ist, komm halt rein.“
Sie griff sofort nach meinem Glas und schüttete den Wein in einem Zug hinunter. Roland machte einen schmalen Mund, dann ging er in die Abstellkammer und holte eine neue Flasche.
„Na dann „, sagte ich, „prost auf unsere WG.“ Die dritte Flasche schafften wir nur halb. Danach war alles gar nicht mehr so schlimm. Der Kerl in Esthers Wohnung und die Quälerei mit ihren Zähnen, und auch nicht Rolands Pendlerleben zwischen hier und Heidelberg. Kurz bevor wir schlafen gingen tranken Roland und Esther Bruderschaft.
Als es draußen fast schon dämmerte, stand meine Schwester neben unserem Bett. Bleich und hager, wie ein Gespenst, ihr Kissen an den Bauch gedrückt. Ein starker Wind war aufgekommen und pfiff durch alle Ritzen in dem alten Haus.
„Meine Füße sind so kalt“, sagte sie. Ich hielt ihr meine Decke auf und zu Roland sagte ich, „lass sie halt rein, sie stört doch kaum.“
An diesem Rosenmontag schliefen wir bis spät am Tag und später duschten wir gemeinsam so lange, bis kein warmes Wasser mehr aus dem Boiler kam.

„Keine Kerzen“, nörgelt meine Schwester.
„Kein Wunder“, sage ich, „so viele wie für meinen Geburtstagskuchen nötig wären, können die sich gar nicht leisten hier im Heim.“
Esther schaut mich an mit großen, leeren Augen.
„Ist schon in Ordnung“, sage ich, „ich wollte nur ein bisschen lustig sein.“ Der Mann am Tisch nimmt seinen Finger aus der Nase und zeigt auf mich. Dann fängt er an zu lachen. „Lustig sein“, sagt er, „ja lustig sein.“ Er klatscht in seine Hände, kichert, prustet, bis ihm die Tränen aus den Augen springen und der Rotz aus seiner Nase läuft. Er wischt ihn ab und schmiert ihn auf den Tisch. Da stößt er auf die Wespe, die in einer Pfütze aus Saft und Kaffee stochert. Er beugt sich vor und packt das Tier mit spitzen Fingern. Doch gleich fängt er an zu brüllen, springt auf und stolpert über seinen Stuhl. Mit dumpfem Krachen fällt er zwischen Esstisch und Regal. Der Pfleger und zwei Schwestern kommen angerannt. Sie tasten seine Beine und seinen Körper ab. Der Mann schreit wie ein krankes Tier.
Esther hat sich hinter mir versteckt. Genau wie früher. Ich fühle ihren Atem warm an meinem Hals. Meine kleine Schwester! Ich spüre ihre Hand, die über meine Schulter kriecht und sehe, wie sie mit gichtig krummen Fingern auf den Alten weist, der jetzt gestützt auf beide Krankenschwestern aus dem Raum befördert wird. Aus seiner Jogginghose hinten lugt eine Windel hervor, zerknautscht mit einem schmalen blauen Rand.
Hinter meinem Rücken flüstert meine Schwester: „Esther-Roland-Anna“, ein ums andere Mal und hört nicht auf zu deuten und zu wispern und zu deuten.
„Wenn meine Schwester ihr Kleid heute Abend ausgezogen hat“, sage ich zum Pfleger, „werfen Sie es bitte weg. Es ist völlig aus der Mode und solche Flecken gehen nie mehr raus.“
Es ist das Kleid, das Esther trug, als sie Roland nachgereist ist. Zu dem Symposium nach Paris. Er war Ehrengast der Konferenz und die Resultate seiner Forschung, die er dort vortrug, galten als spektakulär. So jedenfalls stand es in allen Fachzeitschriften. Die Fotos vom Empfang am Abend hat man uns zugeschickt. Ich habe sie mir sehr lange angesehen und sehr genau
„Esther“, sage ich zu meiner Schwester, „ich geh‘ jetzt heim. Ich werde noch ein bisschen feiern, das kannst du doch bestimmt verstehen.“
Manchmal will sie mich nicht gehen lassen, doch heute ist es ihr egal.
Im Flur riecht es nach einer Mischung von Urin und Abendessen. Ich schaffe es auch diesmal wieder, den Atem anzuhalten, bis ich aus der Türe bin.
Sonnenkringel flimmern übers Pflaster und eine Amsel wetteifert mit den Klängen vom Rummelplatz. Am Büdchen an der Ecke kaufe ich mir einen Piccolo. Er ist sogar kalt.

August 2010

© Christa Feuerbacher