Wo sich nicht jeder wohlfühlt

Alexander G. war jahrelang mein Freund gewesen. Er war Maler und ein Original, das jedermann verblüffen konnte. Mich beispielsweise hat er einmal damit über­rascht, daß er mir zum Geburtstag ein Päckchen mit einer Krawatte schickte. Das erschien nicht sonderlich originell, umso mehr, als die Krawatte rein weiß war; doch als ich sie auspackte, entdeckte ich einen breiten schwarzen Klecks, der unüber­sehbar auf ihr prangte, um dort als Schandfleck das Auge zu reizen. Im ersten Moment war ich verärgert und wollte das Päckchen schon zur baldigen Entsorgung vormerken – aber beim näheren Hinsehen entdeckte ich, daß die schwarze Farbe nicht etwa durch Zufall auf den Stoff gekleckst, sondern mit Absicht aufgedruckt worden war: es war Textilfarbe, wasch- und kochfest mit den Fasern verbunden. Und dann fand ich am Boden des Päckchens einen Zettel, der mir das Präsent als „Krawatte mit Primär­fleck“ vorstellte und darauf hinwies, daß jeder weitere Fleck, der hinzukäme, als Bestandteil des Musters angesehen werden könne, wodurch die Frage nach dem Zeitpunkt einer Reinigung der freien Entscheidung des Besitzers überlassen werde. Ich kam nicht dazu, den Zettel bis zum Ende zu lesen, denn ich mußte zu sehr lachen. Kein Zweifel, das war eine Schöpfung meines Freundes.

Bald darauf aber mußte ich Alexanders Überraschungen entbehren, denn er heiratete wenig später und zog mit seiner Frau in eine andere, dreihundert Kilometer entfernte Stadt. Die Distanz und die veränderten Lebensumstände führten dazu, daß meine Verbindung zu ihm rasch abbrach. Zwar telefonierten wir in der ersten Zeit noch einige Male miteinander, und so erfuhr ich, daß er für sich und seine Frau ein Haus gekauft hatte, aber bald kam auch dieser Kontakt zum Erliegen, und es vergingen mehrere Jahre, in denen ich nichts mehr von ihm hörte.

Dann jedoch ergab es sich eines Tages, daß ich aus beruflichen Gründen für kurze Zeit gerade in diese Stadt reisen mußte, in der Alexander jetzt wohnte. Anrufen wollte ich ihn nach so langer Zeit nicht, und so schrieb ich ihm einen Brief, in dem ich ihn fragte, ob es möglich sei, daß ich während dieser Zeit sein Gast sein könnte. Eigentlich rechnete ich kaum mit einer Antwort, und umso erfreuter war ich, als ich dann doch einen Brief von ihm erhielt. Er schrieb in seiner süffisanten Art, ich solle ruhig zu ihm kommen, er habe genügend Platz, seit sich seine Frau vor einem halben Jahr von ihm habe scheiden lassen. Ich hatte seine Frau nie kennen­gelernt; aber ich wunderte mich schon über sie. Wie konnte man einen Menschen wie Alexander verlassen, einen Menschen, in dessen Gesellschaft es doch wohl kaum langweilig werden konnte?

Eine Woche später stand ich vor seinem Haus. Eine Treppe führte hoch zur Eingangstür, die sich im Obergeschoß befand, so daß man sagen konnte, das Haus war nicht von unten in die Höhe, sondern von oben her in die Tiefe gebaut. Ich klingelte, Alexander öffnete die Tür, hieß mich willkommen und ließ mich eintreten. Ich hatte ihn sofort wiedererkannt, er erschien mir äußerlich unverändert; sicherlich war er auch sonst noch der Gleiche.

Schon als wir die Diele betraten, bestätigte sich mein Eindruck. Ich ahnte, daß Alexander seinem Haus eine besondere, seiner Art entsprechende Note gegeben hatte, und richtig: eine freie Wand wurde von einer großen Landkarte eingenommen, auf der ganz Europa dargestellt war – oder vielmehr nicht ganz Europa, denn ein wesentlicher Teil davon fehlte: Deutschland nämlich! Ganz gewiß hatte eine solche Karte noch niemand zu Gesicht bekommen; Alexander mußte sie selbst angefertigt haben, und da, wo normalerweise Deutschland zu finden war, hatte er ein Meer eingezeichnet. So kam es, daß im Erdteil nun eine riesige Bucht klaffte, die Nord- und Ostsee zu einer einzigen Wasserfläche verband. Es sah aus, als sei aus einem Kuchen ein Stück herausgebissen worden. Die Küstenlinie verlief von der einstigen Wesermündung südwärts, folgte dem ehemaligen Rheinverlauf bis zum Bodensee, dessen Südufer nun zur Meeresküste geworden war, erstreckte sich dann am Fuß der Alpen entlang nach Osten, wodurch Schweiz und Österreich direkten Zugang zum Weltmeer erhielten, führte dann nach Nordosten bis etwa dorthin, wo früher die Elbe entsprungen war, und von dieser Stelle nordwärts, wo sie in der Nähe der einstigen Odermündung endete. Ganz oben im Norden war Dänemark durch die Versenkung Schleswig-Holsteins nun vollends zum Inselreich geworden; Jütland bildete nun eine große Insel im Westen. Interessiert trat ich näher heran, um den Schriftzug zu lesen, der mitten auf der blauen Fläche prangte, „Deutsche Bucht oder zentral­europäisches Meer“ stand da. Ich schmunzelte, als ich bei aufmerksamer Betrach­tung feststellte, daß, verloren auf weiter Flur, die Insel Helgoland noch immer ihren gewohnten Platz einnahm. Andere Eintragungen auf der weiten Wasserfläche lauteten hingegen: „Kölner Senke“, „Maingraben“, „Harzer Schwelle“ und „Berliner Becken“.

Alexander war neben mich getreten und sah mich amüsiert an.
„Hast du die Kartenunterschrift gelesen?“ fragte er.
Ich schaute auf den unteren Rand der Karte und las: „Europa um die Mitte des 21. Jahrhunderts“.
Unwillkürlich mußte ich lachen, obwohl – oder gerade weil – der Scherz so makaber war.
„Vielleicht“ meinte ich dann, „hättest du besser eine einheitlich blaue Fläche malen sollen, vom Atlantik bis zum Ural.“
„Das hätte mich künstlerisch nicht genügend herausgefordert“, sagte er mit völlig ernster Miene – aber dann lachte er laut drauflos. Ich stimmte mit ein; und in diesen Sekunden war alles wie früher.
„Meinst du“, sagte er anschließend mit hintergründigem Lächeln, „wenn es wirklich möglich wäre, ein Land, das jahrhundertelang seine Nachbarn bedroht hat, auf diese Weise aus der Welt zu schaffen – es unter den Meeresspiegel zu treten – daß man es dann nicht schon längst getan hätte?“
Ich verstummte, und ohne ein Wort zu sagen gingen wir durch die nächste Tür und verließen die Diele.
Beim weiteren Gang durch die Räume sah ich, daß Alexander das gesamte Haus in einer Weise ausgestattet hatte, die ähnlich zwiespältige Empfindungen hervorrief. Ganz deutlich wurde mir das im Eßzimmer bewußt. Das Zimmer war geschmackvoll eingerichtet mit einem großen Tisch und einer bequemen Sitzecke; ein Durchgang führte zu einer geräumigen Küche, in der alles vorhanden und an seinem Platz war. Aber da war auch noch etwas anderes: ein Bild hing an der Wand, im optischen Schwerpunkt des Raumes, von jeder Stelle im Zimmer konnte es, mußte es gesehen werden, es sei denn, man hätte sich mit dem Rücken zu ihm gesetzt. Aber selbst dann hätte man das Bild immer noch hinter sich gespürt; es ging nicht aus dem Kopf, seine Wirkung hätte den Gast gezwungen, sich wieder umzudrehen. Das Bild zeigte eine Mutter mit ihrem Kind, eine afrikanische Mutter, denn sie und ihr Kind hatten schwarze Haut. Sie kniete auf dem Boden, und das Kind lag vor ihr im Sand. Es war tot. Es mußte schon einige Stunden tot sein, denn überall saßen Fliegen auf ihm, vor allem im Gesicht, wo sie sich um Mund, Nase und Augen scharten, wo die feuchten, dünnen Schleimhäute ihren Saugrüsseln eine gute Angriffsfläche boten, und wo sie ihre Eier ablegten, damit die ausschlüpfenden Larven sich in das Fleisch bohren konnten, das ihnen als Nahrung dienen sollte. Der aufgeblähte Bauch, die deutlich hervortretenden Rippen, die eingefallenen Wangen und die vertrockneten Arme und Beine ließen unübersehbar die Todesursache erkennen. Auch die kniende Gestalt der Mutter war vom Hunger gezeichnet: sie war nicht weniger abgezehrt, besonders ihre schlaff herabhängenden Brüste, die wie eingeschrumpftes Leder aussahen, waren ein augenfälliges Zeichen des Mangels. Sie wandte ihr Gesicht offen dem Betrachter zu, so daß man den Ausdruck in den tief in den Höhlen liegenden Augen sah, um die herum sich auch schon einige Fliegen niedergelassen hatten. Aber diese Augen sahen den Betrachter nicht an, obwohl sie in seine Richtung wiesen. Ihr Blick war erloschen und verlor sich in der Ferne, ohne etwas wahrzunehmen. Alles, was aus ihm sprach, was ihn ganz und gar beherrschte, war Trauer, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit angesichts einer Natur, in der die Insekten sich von den Menschen ernährten.

Überall sonst hätte dieses Bild als eindringliche Mahnung gewirkt. Hier aber, an diesem bestimmten Ort, wirkte es befremdend. In diesem Eßzimmer beschwor es einen Gegensatz herauf, der spürbar in die Augen sprang. Hatte ich die Landkarte mit dem eliminierten Deutschland noch komisch gefunden, so fühlte ich nun Betroffenheit, sogar Empörung. Wie konnte jemand ein Bild, das Verhungernde zeigte, in ein Eßzimmer hängen!

„Fürchterlich!“ meinte ich. „Ein gutes Bild – aber fürchterlich!“

„Weil es hier hängt?“ fragte Alexander, der geahnt haben mußte, was ich dachte.

„Ja. Mit diesem Bild vor Augen könnte ich keinen Bissen herunterbekommen.“

„Es schockiert, nicht wahr?“ fragte er.

„Ja“, sagte ich wieder. „Aber in diesem Zimmer – „da wirkt es… wie soll ich sagen… beschämend.“

„Du hast recht“, stimmte mir Alexander zu. „Aber das Beschämende ist nicht das Bild. Daß man davorsteht ist es. Daß man dort am Tisch sitzt und eine Scheibe Wurst ißt, das ist es.“

Er hatte Recht. Das Bild klagte den Betrachter an, es bewirkte, daß er sich schuldig fühlte – nur, der Betrachter, das war doch Alexander selbst; also klagte er sich selbst an!

„Wie kannst du das nur auf die Dauer ertragen?“ fragte ich.

„Das liegt nur daran, daß du es zum ersten Mal siehst“, erklärte Alexander. „Da überfällt es einen mit seiner Häßlichkeit. Aber durch die Wiederholung gewöhnt man sich daran, und nach einer Weile läßt die Wirkung nach. Und noch später kommt der Punkt, wo sich der Effekt auf den Kopf stellt. Glaub mir, ich habe es selbst erlebt. Man entdeckt, daß es nicht nur anklagen, sondern auch freisprechen kann. Mir jedenfalls sagt es, wenn ich es jetzt ansehe, daß mich keine Schuld trifft an dem, was es zeigt.“

„Das sagt dir dieses Bild?“ fragte ich zurück.

Er schwieg ein paar Sekunden und schaute mich an, als zweifelte er daran, daß ich wirklich überrascht war.

„Es ist ein Rechenexempel“, begann er zu erläutern. „Nimm einmal an, ein Kind bei uns verbraucht pro Jahr die gleiche Menge an Nahrung wie hundert Kinder in Afrika. Was ergibt sich daraus? Zehn Familien bei uns mit je zwei Kindern bedeuten, daß zweitausend Kinder in Afrika verhungern; zehn Familien mit je drei Kindern, daß dreitausend verhungern, und so weiter. Legen wir bei uns als Durchschnitt zwei Kinder pro Familie fest, dann wird jedes Kind, das darüber hinaus geboren wird, mit dem Tod von hundert afrikanischen Kindern bezahlt. In meiner Rechnung heißt das, daß tausend Familien mit drei Kindern bei uns dafür verantwortlich sind, daß in Afrika einhunderttausend Kinder sterben. Mathematisch korrekt, nicht wahr?“

Ich war nicht fähig, ein Wort zu erwidern; seine kalt geschlußfolgerten Sätze hatten mir die Sprache verschlagen.

„Und nun sieh mich an“, fuhr Alexander fort, als ich nicht antwortete. „Ich habe keine Kinder. Das ist mein Opfer. Verstehst du: um Leben zu retten, muß man anderes Leben opfern, und zwar dadurch, daß es gar nicht erst entsteht. Darum finde ich für mich keine Schuld an dem, was auf diesem Bild zu sehen ist – außer der, daß ich geboren wurde, und dafür bin ich nicht verantwortlich. Sonst jedoch habe ich nichts beigetragen zu der Misere, und deshalb kann ich dieses Bild ansehen und ruhig bleiben, denn ich glaube, daß es mich freispricht.“

Inzwischen hatte ich mich von meiner Verblüffung erholt, gerade zur rechten Zeit, um auf das Stichwort, das er mir jetzt geliefert hatte, zu antworten.

„Und ich meine“, sagte ich langsam, „man kann sich nicht selber freisprechen. Das müssen andere tun.“

Er sah mich einen Augenblick aufmerksam an, und mir schien, als dächte er über meinen Einwand nach.

„Völlig richtig“, sagte er schließlich. „Aber diese anderen können nur die auf dem Bild sein, niemand sonst; und ich bin sicher, sie werden mich nicht verurteilen. Sie werden zu schätzen wissen, was ich für sie getan habe, wenn sie mich mit denen vergleichen, die zwei oder drei Kinder haben und dann lauthals über das Elend in der Welt weinen. Den Schaden, den sie damit angerichtet haben, können sie durch keine Wohltat gutmachen. Sollen diese Kosmetiker mit milden Gaben ihr Gewissen beruhigen; ich habe das nicht nötig. Ich kann mich in aller Ruhe vor dieses Bild setzen und mir die Scheibe Wurst in den Mund stecken.“

„Alexander!“ rief ich laut aus. Jetzt war er so weit gegangen, daß ich einfach irgend etwas sagen mußte, sei es nur, um seinen Redefluß zu unterbrechen. Bestürzt sah ich ihn an. War das mein Freund, humorvoll und originell, wie ich ihn in Erinnerung hatte?

Schließlich zuckte er mit den Schultern.

„Was willst du?“ sagte er wie entschuldigend. „So ist nun mal die menschliche Natur. – Komm jetzt, es wird Zeit, daß ich dir zeige, wo du dein Gepäck abstellen kannst.“

Wir stiegen eine enge Treppe hinab, die zum Untergeschoß führte. Dort befand sich Alexanders Schlafzimmer, und ich hätte mich gewundert, wenn mich dort nicht wieder eine Überraschung erwartet hätte. Aber auf das, was ich in diesem Zimmer sah, war ich dann doch nicht gefaßt gewesen. Es lag nicht so sehr daran, daß das ganze Zimmer vollständig schwarz gestrichen war und daß auch alle Möbel schwarz lackiert glänzten. Abgesehen von ihrer Farbe waren die Möbel – eine Ankleidekommode, zwei Schränke und ein Bett – mit silbernen Handgriffen geschmückt, und an allen Holzkanten waren weitere Beschläge, die aussahen wie die Köpfe von silbernen Nägeln, so daß der Eindruck entstand, als ob die Möbel mit ihnen zusammengenagelt waren. Ein großer schwarzer Vorhang an der Kommode verhüllte einen Spiegel, den ich dahinter vermutete. Deutlich zu sehen dagegen war ein zweiter Spiegel, der an der Decke befestigt war, gerade über dem Bett.

Das Bett stand auf einem quaderförmigen Sockel, sehr hoch, wie auf einer Konsole. Sein Grundriß war nicht rechteckig, sondern hatte die Form eines lang­gezogenen Sechsecks, wie um ein liegendes Kreuz herumgezeichnet. Die Außenseiten waren wiederum mit silbernen Nagelköpfen verziert und an den Längskanten jeweils drei silberne Tragegriffe angebracht. Die Kissen und Bezüge im Innern waren, im völligen Gegensatz zum Holz, aus einem rein weißen, samtigen Stoff. Rechts und links an den Wänden hingen je drei Silberleuchter, wie Kerzen­halter geformt, mit roten Schirmen, unter denen Glühbirnen steckten. Ich stand eine Weile sprachlos da, und mich beschlich eine Ahnung, daß der Spiegel über dem Bett wohl nicht nur schöne Dinge mitangesehen hatte.

„Alexander?“, fragte ich mit unwillkürlich gedämpfter Stimme, „Warum hat sich deine Frau eigentlich von dir scheiden lassen?“

Er überlegte einen Augenblick zu lange, bevor er antwortete; und ich wartete nicht weiter, sondern wandte mich zur Tür.

„Was hast du denn?“ hörte ich Alexander hinter mir fragen.

Mit diesen Worten verließ ich das Zimmer.

„Und dein Gepäck?“ rief mir Alexander nach.

„Das lasse ich erst einmal in der Diele stehen“, entschied ich, ohne mich um­zuwenden.

© Jörg Wartschinski