Ein stürmischer Flug von Wien nach Venedig

Ein Flug – das Leben ist ein Flug, dachte sie. Alles geht im Nu vorbei – nichts bleibt bestehen. Die schönsten Momente bleiben nicht, zum Glück die schlechten auch nicht. Sie saß mit einem Glas Rotwein in ihrem blauen Lieblingssessel, sinnierte vor sich hin.  Oh ja, irgendwie schien ihr Leben wie ein Flug vorbei geflogen zu sein. Alles war weit weg und doch nah – ihre Erinnerungen waren so lebendig, als wäre es erst gestern passiert. Dieser Flug von Wien nach Venedig, ein Stück ihrer Hochzeitsreise – nie konnte sie es vergessen. Sie hatten sich an den Händen gehalten, das Flugzeug geriet in Turbulenzen – sie hatte Angst, er beruhigte sie.  Sie waren jung gewesen, damals und alles war noch so leicht.  Heute dachte sie, schon dieser stürmische Flug war ein Vorgeschmack. Turbulenzen hatte es immer wieder gegeben, mal stärker, mal sanfter. Die Geburten der Kinder, das Aufwachsen – hier hatte es viele lebendige Phasen mit viel Lachen und Lust an allem.  Dagegen heftige Einbrüche, als ihr Mann sich intensiv verliebt hatte.  Das war ein Luftloch – sie hatte sich wie im Flugzeug gefühlt. Wollte er gehen? Wollte er bleiben? Sie hatte gekämpft, auf ihr Art, still, war einfach da. Das Loch war tief und groß. Über ein Jahr hatte diese Phase gedauert, er war ausgezogen, um Abstand zu gewinnen. Zum Glück waren die Kinder erwachsen. Sie zankten sich, schrien sich an – guckten sich verwundert ob ihrer Heftigkeit an und waren still.  Aufeinander zu gehen und sich wieder in den Arm nehmen und in die Augen blicken. „Wir wollen ruhig miteinander reden.“ war ihre Maxime. Es gelang – er war zurückgekommen und allmählich hatten sie wieder zueinander gefunden. Als er in hohem Alter starb, war sie ruhig – sie hatten ihr Leben gut gelebt. Sie träumte, genoss ihren Wein und lächelte.

„So, Frau Mira, ich bringe sie jetzt in ihr Bett, zur Nacht – verabschieden Sie sich von ihren Tagträumen und freuen Sie sich auf die nächtlichen Träume.  Morgen ist ein wichtiger Tag: Der Rechtsanwalt kommt, um mit Ihnen die Umwandlung ihres Vermögens in eine Stiftung für körperbehinderte Menschen zu besprechen. Da müssen Sie fit sein: Sie wissen ja, sie haben keine Angehörigen und niemand kann etwas für sie übernehmen. “

© Hilla Hombach
2013/Februar 2015