Heinzelmännchen reloaded

DIE WAHRE GESCHICHTE DER HEINZELMÄNNCHEN VON KÖLN

Damals, als im Siegerland und im Bergischen Land noch Erz geschürft wurde, eigneten sich die kleinen Männer gut, um tief in die niedrigen Stollen und engen Schächte einzusteigen. Sie schleppten tagein, tagaus das ständig eindringende Wasser in Kübeln und Bottichen hinaus, das nannte man Heinzen. Es war eine Kunst, das Wasser zu beherrschen. Denn das Wasser konnte, sofern man es nicht aus den Gruben hinausbeförderte, kanalisierte und ableitete, insbesondere nach starken Regenfällen, die ganze Grube unbrauchbar machen. Dazu gab es die Heinze. Die Heinze waren Spezialisten, doch jetzt, mit den modernen, großen, von Pferden angetriebenen, hölzernen Zahnrädern, den Pferdegöpeln, wurden viel größere Mengen Wasser zuverlässiger und schneller aus der Grube schaffen. Ein Heinzemann nach dem Anderen wurde arbeitslos.

Tief in einem Stollen saßen drei Heinzemänner zusammen und machten Pause. „Wir verhungern noch alle, wenn das mit den Rationalisierungen so weitergeht.“ sagte der Heinzemann mit der roten Nase. „Ja, in der Nachbargrube haben sie bereits alle Heinzemänner betriebsbedingt ohne Abfindung entlassen. Die sind in den Wäldern verschwunden und kratzen jetzt das Hartz IV von den Bäumen. Davon kann man nicht leben!“ sinnierte der Heinzemann mit den krummen Beinen. „Unsere Gewerkschafter sehen tatenlos zu, wie man immer mehr Arbeitsplätze wegrationalisiert.“ zischte der Heinzemann mit dem breiten Gürtel. „Man müsste den Einsatz von Pferdegöpeln kontingentieren.“ rief der Rotnasige mit geballter Faust. „Vielleicht sollten wir einen Warnstreik ausrufen und die Arbeit einen Tag ruhen lassen“, meinte der Krummbeinige „wir müssen Zeichen setzen.“

Misstrauisch drehte sich der Breitgegürtete um und spähte in die Dunkelheit des Stollens. Dann winkte er die beiden Anderen näher zu sich heran und dämpfte seine Stimme. „Mein Schwager hat mir erzählt, dass immer mehr von uns in wirtschaftsstärkere Regionen abwandern. Hier ist Entwicklungsland in der Phase der Vorindustrialisierung. Die Chancen für den Erhalt unserer Arbeitsplätze stehen schlecht.“

„Aber wir können doch nur Heinzen und werden h i e r gebraucht, andere Regionen haben keine Bergwerke mit so schmalen Stollen!“, wandte Rotnase ein. „Ja, unsere Körpergröße ist genau auf die engen Schächte und Stollen ausgelegt. Für andere Regionen sind wir inkompatibel,“ bestätigte Krummbein.

Breitgurt schüttelte den Kopf und wedelte dabei mit dem ausgestreckten Zeigefinger herum. „Mein Schwager hat die Kunde, das man in K ö l n…“ – er hauchte das Wort Köln nur, drehte sich dabei abermals misstrauisch um – „… in Köln nachts arbeiten kann, bei freier Verpflegung und Taschengeld. Allerdings darf man sich nicht tagsüber auf der Straße sehen lassen.“

„Was arbeitet man dort, wenn man nur das Heinzen beherrscht?“, fragte Rotnase. „Nun, als ungelernte Fachkräfte im Handwerk, als Zimmerleute, Schreiner, als Bäcker, als Brauer oder Küfer und als Metzger.“ „Aber diese Handwerke können wir doch alle nicht, wie sollen wir sie dann ausüben? Wir sind nicht ausreichend qualifiziert für diesen Arbeitsmarkt.“ meinte der Krummbeinige.

„Ja,“ schaltete sich der Rotnasige ein, „und die Zünfte lassen uns bestrafen und aus der Stadt hinauswerfen. Ich habe gehört, wer da illegal eingewandert ist und keine Arbeitsgenehmigung vorweisen kann, wird nach Düsseldorf abgeschoben.“ „Ssscht, nicht so laut.“ Breitgurt blickte abermals über die Schulter zurück in die Dunkelheit des Stollens, weil er befürchtete, dass der Steiger kommt. Dann sagte er leise: „Man darf sich eben nur in der Dunkelheit draußen aufhalten. Die sollen dort aber pro Stunde deutlich besser bezahlen. Außerdem gibt es noch andere Arbeit: Bratklopse herstellen, die werden dort in Sesambrötchen gesteckt und gut verkauft, oder in den Brauhäusern Rosen verkaufen, Zeitungen austragen, oder im China-Restaurant in der Küche helfen. Ich selbst werde auswandern und vielleicht nach einiger Zeit einen Kiosk oder eine Dönerbude aufmachen.“

„Bist Du verrückt“, sagte da leise der Krummbeinige, wobei seine Halsschlagadern anschwollen, „das bedeutet illegales Einwandern über den Rhein. Der Fluss soll gefährlich sein und die Flüchtlingsboote sind überfüllt, werden aufgebracht oder kentern. Wenn Du Glück hast und überlebst, kommst Du in ein Lager für Immigranten und sitzt da jahrelang fest, bevor Du abgeschoben wirst!“ –

„Ach, – Du hast Dich also auch schon erkundigt?“ fragte erstaunt der Breitgürtige, „Ich kenne da jemanden, der mich hinüberschleusen will, das Geld für die Überfahrt habe ich schon zusammengekratzt. Morgen Nacht breche ich auf, es geht so nicht weiter. Vielleicht kann ich meiner Familie, dann jeden Monat ein paar Geldstücke schicken.“

„Wenn ich ehrlich bin, ich habe es auch satt. Mir hat man heute morgen gekündigt. Ab morgen ist für mich hier Schicht und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich glaube, ich komme mit,“ gab Krummbein jetzt kleinlaut zu. „Das ist nicht zu glauben, ihr also auch? Dann lasst uns handeln, bevor der große Treck losgeht.“

Die drei verschwanden am nächsten Tag, überwanden den Rhein in einem Flüchtlingsboot, das als Zweier mit Steuermann getarnt war, und verdingten sich nachts bei einem Schneider für einen Hungerlohn. Sie erlernten dabei das Handwerk, fanden heraus, dass Anson, H&M, C&A, Zara, Aldi und Lidl die größten Abnehmer waren.

Bis Frau Spelter von der Ausländerbehörde aus der interdisziplinären Arbeitsgruppe von Zoll, Arbeitsamt, Ausländer- und Finanzbehörden im Rahmen einer Razzia unverhofft die im Keller liegende Schneiderstube betreten wollte und ihr die Drei auf der Treppe, beim Fluchtversuch, entgegen kamen. Vor Schreck fielen sie laut polternd die Treppe hinunter. Unsere Drei wurden nach Düsseldorf abgeschoben, wo sie die Modemesse gründeten und seither Kleidung in China und Bangladesch fertigen lassen.

Das ist die wahre Geschichte der Heinzelmännchen von Köln! Alles andere ist Legende.

© Jo Hagen