Schachmatt

Gerd Buchwald stand vor seinem ersten großen Schachturnier. Er brauchte enorm viel Zeit, um sich darauf vorzubereiten, und absolute Ruhe. Aber ausgerechnet jetzt sollte die Frau von Dieter Reimers zurückkommen, hatte er in seinem Stammlokal gehört.

Dieter Reimers war sein Nachbar und seit etwa einem Jahr der Liebhaber seiner Frau. Zunächst hatte Gerd die Tatsache, dass Angelika ihn betrog, gekränkt, aber er hatte schnell die Vorzüge erkannt, die sich daraus für ihn ergaben. Er hatte Angelika sowieso niemals leidenschaftlich geliebt, sondern sie in erster Linie wegen ihres Geldes geheiratet, das ihm ein angenehmes Leben ohne regelmäßige Arbeit sicherte.

Wenn sie früher darauf bestanden hatte, dass er sie zu Konzerten und Partys begleitete, ließ sie ihn jetzt damit in Ruhe. Sie schob irgendwelche angeblichen Kurse an der Volkshoch-schule vor, damit sie abends allein ausgehen konnte. Zudem zeigte sie sich wohl wegen ihres schlechten Gewissens finanziell wesentlich großzügiger. Gerd hatte sich sogar den teuersten Schachcomputer, den es auf dem Markt gab, anschaffen dürfen.

Aber wenn Dieter Reimers sich mit seiner Frau ausgesöhnt hatte, wäre das schöne ruhige Leben bald vorbei, und Angelika würde wieder Forderungen an ihren Ehemann stellen. Gerd geriet geradezu in Panik bei dieser Vorstellung, denn für sein Hobby hatte Angelika noch nie das geringste Verständnis aufgebracht.

Was sollte er machen? Eine Scheidung kam nicht in Frage, weil Angelika nichts von ihrem Vermögen herausrücken

würde. Er stände ohne einen Pfennig da und müsste wieder in seinem nervtötenden Job als Vertreter arbeiten.

Eine Vergeudung bei seinem Talent für das königliche Spiel.

Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als mit allen Mitteln zu verhindern, dass Conny Reimers wieder mit ihrem Mann zusammenleben würde. Aber wie? Er kannte sie ja kaum. Sie hatte sich schon, kurz nachdem Angelika die Villa neben Reimers gekauft hatte, von ihrem Mann getrennt.

Vielleicht ist es besser, dass ich sie nicht so gut kenne, ging es Gerd plötzlich durch den Kopf, wenn ich sie tatsächlich… Nein, das brächte er nicht fertig, oder?

Er erinnerte sich an den Revolver, der in seinem Schreibtisch lag. Angelika hatte darauf bestanden, weil es immer wieder dreiste Einbrüche und Überfälle in ihrem vornehmen Villenviertel gab.

Die geliebten Schachfiguren auf dem Brett tanzten vor seinen Augen. Er musste an das bevorstehende Turnier denken. Noch niemals im Leben hatte er die Chance bekommen, etwas wirklich Bedeutendes zu leisten, anerkannt und bewundert zu werden. Er sah sich in Gedanken schon mit Kasparow um den Titel des Weltmeisters spielen.

Conny Reimers zog am ersten Mai wieder zu ihrem Mann. Am zweiten Mai fand man ihre mit einem Jogging-Anzug bekleidete Leiche im nahe gelegenen Waldstück.

„Ich weiß, dass du es warst, denn der Revolver ist weg“, begrüßte Angelika ihre bessere Hälfte, als Gerd vom Schachclub nach Hause kam. „Die Polizei war schon hier. Du hast mir einen Gefallen getan hast, diese Schlampe zu beseitigen. Deshalb verpfeife ich dich nicht. Aber du musst dich jetzt von mir scheiden lassen, damit ich Dieter heiraten kann – ohne Abfindung, versteht sich.“

Gerd schüttelte heftig den Kopf. Dafür hatte er keinen Mord begangen. „Entweder du überschreibst mir die Hälfte deines Vermögens, oder ich gehe lieber ins Gefängnis.“

„Meinst du, das macht mir etwas aus?“

„Aber deiner vornehmen Familie wird es etwas ausmachen, dass dein Mann ein Frauenmörder ist. – Sei doch vernünftig, Angel. Wenn wir alles so weiterlaufen lassen, wirst du bald die Frau eines berühmten Schachgroßmeisters sein.“

Bei diesen Worten fing Angelika hemmungslos an zu lachen. Es machte ihn ganz krank, dass sie ihm so wenig zutraute. Aber sie würde sich noch wundern. Soeben war ihm ein genialer, wenn auch riskanter Schachzug eingefallen, um sie matt zu setzen.

„Okay, wie du willst!“ schrie er sie an. „Dann stelle ich mich eben der Polizei.“

Sie nahm ihn immer noch nicht ernst und hielt sich den Bauch vor Lachen. Schließlich sagte sie: „So blöd kannst nicht einmal du sein. Außerdem passt mir das nicht. Ich verbiete dir, zur Polizei zu gehen.“

Aber da war Gerd schon durch die Tür und ließ sich nicht mehr aufhalten. Er fuhr auf schnellstem Weg zum Polizeipräsidium.

Der zuständige Kommissar hatte noch Dienst. „Was führt Sie zu mir, Herr Buchwald? Wir haben uns noch nicht kennen gelernt. Aber ich war heute Nachmittag schon bei Ihrer Frau. Das hat sie Ihnen sicher erzählt.“

„Ich habe Frau Reimers erschossen, Herr Kommissar.“

Wieder wurde Gerd ausgelacht, aber diesmal machte es ihm nichts aus. Er hatte sogar fest damit gerechnet.

„Ich glaube Ihnen kein Wort, Herr Buchwald, denn Sie haben überhaupt kein Motiv. Ihnen konnte es nur recht sein, dass Frau Reimers wieder zu ihrem Mann zog. Sie wollen doch nur Ihre Frau decken.“

„Nein, nein, ich bin der Täter.“

Dem Kommissar war die Sache sichtlich peinlich. „Ich befürchte, Ihnen ist nicht klar, dass Ihre Frau mit Dieter Reimers ein Verhältnis hat. Wir wissen es von ihm, und Nachbarn haben uns das auch bestätigt.“

„Das allein kann aber doch kein Beweis sein, dass sie die Mörderin ist, oder?“ fragte Gerd vorsichtig.

„Da haben Sie recht, aber Ihre Frau war so töricht, den Mord anzukündigen. Sie hat Frau Reimers gedroht, sie zu erschießen, falls sie wieder zu ihrem Mann zieht. Die Mutter von Frau Reimers hat uns den Brief übergeben. Es ist einwandfrei die Handschrift Ihrer Frau.“

Gerd wusste gar nicht, wie ihm geschah. Das sah ganz so aus, als habe sich Angelika selbst matt gesetzt. Die Stimme des Kommissars klang wie Musik in seinen Ohren. „Ich muss Ihnen leider sagen, dass der Haftbefehl für Ihre Frau schon ausgestellt ist. Sie wird wohl in diesen Minuten festgenommen.“

© Gaby Braun