Der Traum der Vernunft

Kaum haben sie sich hin gesetzt, erscheint die Stewardess und fragt, was sie trinken möchten. Sekt oder Orangensaft.
Den Saft, sagt Johannes, wir nehmen den Orangensaft.
Ich hätte gerne ein Glas Sekt, sagt Anita und nestelt an der Klappe ihres Sitzgurtes. Der Gurt ist viel zu weit. Meistens ist der Gurt zu weit, wenn Anita sich im Flugzeug anschnallen will. Das erstaunt sie nicht. Es verschafft ihr vielmehr ein gewisses Gefühl von Überlegenheit. Sie jedenfalls hat sich gut gehalten, für ihr Alter. Das Ergebnis jahrelanger Disziplin. Man sagt, zuweilen könne man sie mit ihrer Tochter verwechseln. Sie weiß, dass man ihr damit schmeicheln will, aber an ihrer Tochter hat Anita einiges auszusetzen.
Die Stewardess bringt die Getränke und stellt sie auf die Konsole zwischen den Sitzen. Anita leert ihr Glas in einem Zug. Johannes schaut in seine Zeitung. Der Mann auf der anderen Seite des Ganges hebt sein Sektglas und prostet Anita zu. Er sieht aus wie der Ganove, der Anita am Tag zuvor ihre Handtasche geklaut hat. Im Frühstücksraum des Hotels. Er hat ihr in die Augen geschaut, als sie zum Buffet ging, und als sie zurück kam, mit einem Crois-sant nur und etwas Marmelade, war ihre Handtasche verschwun-den und auch der Mann am Tisch neben dem Eingang. Johannes war schon längst in seiner Sitzung. In der Handtasche war Anitas Geld, ihre Kreditkarten, der Ausweis und ihre Hausschlüssel. Au-ßerdem das Parktiket vom Flughafen-Parkplatz und ihr Handy. Den Zimmerschlüssel trug sie in der Tasche ihres Blazers. Anita musste von der Rezeption aus telefonieren und als sie Johannes endlich erreicht hatte, um zehn, während der Kaffeepause seines Meetings, sorgte er sich hauptsächlich um den Hausschlüssel und den Verlust der Kreditkarten. Ob sie auch alles gleich gesperrt ha-be? Kein Wort, wie sie sich fühle. Ob sie damit fertig werde. Was sie den ganzen Tag zu tun gedenke, ohne Geld, ohne Karte und ja, ohne Brille, denn die war auch in ihrer Tasche.
Die Zeitung, die ihr angeboten wird , weist sie zurück, woraufhin die Stewardess Anita ein buntes Gesellschaftsmagazin in die Hand drückt, so als dulde sie keinen Widerspruch. Eine von den Zeitschriften, über die Anita sich immer lustig macht. Sie steckt sie in die Tasche vor ihr zu den Kotztüten und der Karte mit den Si-cherheitshinweisen. Der Mann auf der anderen Seite des Ganges grinst. Nur mit dem Mund, nicht mit den Augen. Johannes beugt sich nach vorne und versperrt den Blick nach drüben. Anita hätte auch so nicht zurück gegrinst.
Sie klappt den Fernseher aus der Armlehne zwischen den Sitzen und schaltet ihn ein. Donald Duck verhaspelt sich in einer Kü-chenschürze. Lautlos. Seine Neffen schlagen sich auf die Bäuche und werfen sich auf den Boden vor Lachen. Johannes sagt, die Kopfhörer sind in der blauen Tasche und Anita antwortet, ich kann sowieso nicht viel sehen. Sie weiß, dass er Zeichentrickfilme nicht ausstehen kann.
Vereinzelte Wolkenfetzen vor dem Fenster, unter ihnen eine karge Landschaft. Sehr weit unter ihnen. Anita versucht, sich alles ein zu prägen, die karstigen Hügel, versprengte Baumgruppen , Fluss-läufe, Felder. Vielleicht ließe sich daraus etwas machen. Das Ganze ziemlich abstrahieren. Eine andere Technik. Litho, viel-leicht. Eine neue Grafikserie.
Ihre letzte Ausstellung war ein Flop gewesen. Ein Kritiker schrieb, sie habe sich wohl allzu sehr vom alten Meister Goya inspirieren lassen. Gekonnt und düster, aber kaum mehr zeitgemäß.
Johannes sagte, das sei zwar eine schlechte Investition gewesen, aber beim nächsten Mal hole sie das locker wieder raus. Seitdem machte Anita einen Bogen um ihr Atelier.
Vor dem Essen gönnt sie sich ein Glas Champagner, zur Enten-brust einen Bordeaux. Und weil Johannes sagt, trink nicht so viel, nimmt sie noch einen Cognac zum Dessert. Johannes ist schon beim Kaffee. Er holt seinen Laptop aus der Gepäckablage und schaltet ihn ein. Mit den Fingern trommelt er auf das Gehäuse während er wartet, bis der Bildschirm hell wird.
Anita lehnt den Kopf gegen die Fensterscheibe und schaut hin-aus. Sie sind bereits über dem Meer. Der letzte Ausläufer des Festlandes verschwindet gerade hinter der Tragfläche. Im schmalen Band der Tropopause verglüht das Licht. Das Meer ist schiefergrau. Seine Dünung zu einem Muster erstarrt. Es sieht aus wie eine Raufasertapete. Anita fragt sich, wie lange es wohl dauert bis man dort unten aufschlägt, wenn man aus dem Flugzeug fällt oder wenn man abstürzt. Eine Minute, fünf vielleicht? Ob man das Bewusstsein verliert oder ob man ganz genau mitkriegt, wie man auf das Wasser zu rast, das so hart sein soll wie Beton. Anita kann sich das nicht vorstellen. Sie ist schon oft ins Wasser ge-sprungen. Als Kind, im Schwimmbad. Vom drei- und ein paar Mal sogar vom Fünf-Meter-Turm. Und während sie darüber nachdenkt, wie es gewesen ist, wird ihr mit einem Mal ganz leicht und sie sieht sich dahin schweben, über dem Wasser, das gar nicht mehr grau und hart aussieht sondern türkisblau, mit kleinen Lichtkrin-geln. Als sie eintaucht fühlt es sich kühl an und angenehm. Es schmeckt ein bisschen salzig. Sanfte Wellen wiegen sie und tra-gen Anita zu einem Strand, der so hell ist, dass sie die Augen zu-sammen kneifen muss. Der weiße Sand ist voller Menschen. Sie stehen dicht gedrängt und als Anita näher kommt, beginnen sie zu winken und zu jubeln. Alle haben Grafiken aus Anitas letzter Aus-stellung in der Hand und schwenken sie hin und her wie Fahnen. Ganz hinten, ein bisschen abseits von der Menge, steht der Mann von der anderen Seite des Ganges. Er hat ihre Handtasche und lässt sie um seinen Arm kreisen wie eine Steinschleuder. Sie grinst ihn an, worauf er die Tasche los lässt. Sie saust auf Anita zu wie ein Geschoss und trifft sie am Kopf.
Das Flugzeug fliegt durch eine Zone starker Turbulenzen. Das scheint niemanden zu stören. Nur Anita hat sich den Kopf am Fenster an gehauen. Die meisten schlafen. Johannes auch. Er hat seinen Sitz nach hinten geklappt, die Schuhe ausgezogen und den Hosenbund auf gemacht. An die Schuhe wird er denken, später, beim Aussteigen, nicht an den Hosenknopf. Anita nimmt sich vor, dass sie ihn beizeiten warnt. Die Schlafmaske ist ihm in die Stirn gerutscht und sein Mund steht offen. Anita kann sehen, dass er schnarcht. Hören kann sie nur das Rauschen der Motoren.
Sie muss aufs Klo und greift nach ihrer Tasche. Gleich ist der ganze Ärger wieder da. Über das Geld, die Kreditkarten, den Ver-lust der Papiere und die Lauferei, bis sie alles wieder beisammen hat. Und dann ärgert sie sich über ihren blöden Reflex und dar-über, dass sie sich irgendwie nackt fühlt, wenn sie aufs Klo geht, ohne Tasche.
Sie steigt über Johannes‘ Beine damit sie in den Gang kommt. Der Mann auf der anderen Seite ist nicht da. Sie sieht ihn weiter hinten im Flugzeug. Tuschelnd. Mit einem anderen Passagier. Anita denkt, sie wirken wie Verschwörer. Johannes hätte sie jetzt wieder ausgelacht: Er sagt, sie habe einfach zuviel Fantasie. Das müsse sie sich endlich abgewöhnen.
Die Stewardess deutet auf das Anschnallzeichen und flüstert: Bit-te! Anita nickt. Sie öffnet die Toilettentür und geht hinein. Das Flugzeug bockt und schlingert. Sie muss sich auf die Brille setzen, obwohl sie das nicht gerne tut. Danach zupft sie noch an der Fri-sur herum, und weil sie keinen Stift dabei hat, beißt sie sich ein paar Mal auf die Lippen. Das ändert nichts. Ihr Spiegelbild wirkt müde und verknautscht.
Im engen Gang kommt ihr der Mann entgegen. Groß und gut aus-sehend. Anita hat das Lächeln schon parat, mit dem sie sich an ihm vorüber drücken wird. Beim nächsten Luftloch rempelt er sie an. Kein Blick. Kein Wort. Keine Entschuldigung.
Johannes schläft noch immer. Als Anita sich über die Fußstütze zurück in ihre Reihe müht, hört sie, wie die Tür des Cockpits aufgerissen wird. Von hinten kommt der Schrei der Stewardess.

© Christa Feuerbacher