Prolog Umlaufbahnen

Nach mehr als 300 Umlaufbahnen beginnt die Besatzung der Raumstation Mir mit den Vorbereitungen für die Rückkehr zur Erde.
Obwohl Robert Sellner in diesen Wochen hart gearbeitet hat, kann er das Gefühl nicht los werden, nur einen Bruchteil dessen erreicht zu haben, was er sich eigentlich vorgenommen hatte. Nicht was seinen wissenschaftlichen Auftrag angeht, da kann sich niemand beklagen. Aber jetzt fallen ihm alle möglichen Experimente ein, die er so zwischendurch einmal einschieben wollte, und die zur Vertiefung seiner persönlichen Erfahrungen im Weltraum nützlich gewesen wären. Nichts wirklich Wichtiges, aber er ahnt, dass alles, was er jetzt noch nicht begriffen hat, unwiederbringlich verloren ist. Zum Beispiel ärgert er sich, dass er sich nie davon zu lösen vermochte, seinen Arbeitsbereich in oben und unten einzuteilen, obwohl inzwischen alles relativ geworden ist. Noch immer betrachtet er die Luke, durch die der blaue Planet zu ihnen hereinschaut, als einen Teil des Fußbodens, nur weil sie beim Training zufällig so angeordnet war. Die Gewohnheit hat sich als stärker erwiesen als seine Bereitschaft, die ungewohnte Situation bedingungslos zu akzeptieren.
Nach zwei Flügen mit den Amerikanern und diesen drei Wochen auf der Mir-Station ist dies nun seine letzte Mission. Das hat er Katharina versprochen, seiner Frau. Leichter Unmut will sich breit machen, dass er sich darauf eingelassen hat. Er hindert ihn an der Nachtruhe, die man ihm vor der Abstiegsphase verordnet hat.
Beim Frühstück schluckt er ein paar Salztabletten weniger als man ihm geraten hat und nimmt nur die Hälfte der Flüssigkeitsmenge zu sich, die eine ausreichende Blutversorgung von Körper und Gehirn gewährleisten soll. Die beiden Anderen sind da nicht besser. Sie wissen so gut wie er, dass sie für mehrere Stunden in ihren Raumanzügen in der Rückkehrkapsel eingesperrt sein werden. Aber sonst läuft alles nach Plan.
Zwei Orbits bevor die Sonne über ihrem Startplatz in Kasachstan aufgehen wird, löst sich die Sojus mit der Kapsel von der Raumstation, treibt eine Weile mit ihr in der selben Umlaufbahn und wird schließlich abgebremst durch einen Rückstoß gegen die Fahrtrichtung. Robert Sellner nutzt die Gelegenheit, seine Sitzgurte nachzuspannen, die in der Schwerelosigkeit locker um Brust und Arme herum geschwebt sind. Er registriert nur nebenbei, dass die Kapsel nach der Abtrennung der Sojus-Segmente zu taumeln beginnt und wappnet sich für den beschwerlichsten Teil ihres Abstiegs. Wenn er den Kopf zur Seite dreht, kann er in einem der beiden Fenster das Aufglimmen eines rosa Lichtscheins beobachten, das ihrem Eintritt in die Atmosphäre vorausgeht. Später, wenn ihn die Schwerkraft mit vierfacher Erdbeschleunigung in seinem Sitz festnagelt, werden auch die Fenster verrußen. Er hat keine Angst vor dem Feuer, aber das Wasser, mit dem er in Gedanken den Zustand der Schwerelosigkeit verbindet, ist ihm näher.
Er weiß, was jetzt kommen wird. Aber diesmal ist es ihm besonders wichtig zu beweisen, dass sein Körper mit der Herausforderung fertig werden kann, die der Wiedereintritt in die Atmosphäre mit sich bringt. Er beißt die Zähne zusammen und versucht, die Zunge gegen den Gaumen zu pressen, weil sie ihm sonst in den Schlund gedrückt würde. Das Atmen fällt ihm auch so schwer genug. Als er spürt, wie sich sein Gesicht zur Fratze verzerrt, beruhigt ihn die Gewissheit, dass man ihn hinter dem heruntergeklappten Visier seines Helms kaum erkennen kann. Einen kurzen Moment lang sorgt er sich um die bis zum Zerreißen gespannten Mundwinkel und bewundert den Kommandanten, der mit entstellter Stimme seine Anweisungen durchgibt.
Auf den Ruck, mit dem der erste Fallschirm ihren Sturz zur Erde abfängt, ist er nicht vorbereitet, so dass es ihm die Arme in den Körper rammt. Sein Clipboard mit den Papieren verhakt sich zwischen den Drähten und Leitungen schräg hinter seinem Kopf. Sie werden jetzt ziemlich durchgebeutelt, während sich die Fallschirme öffnen. Einer nach dem anderen. Aber von nun an hat er sich besser im Griff. Er denkt, dass die Landung im Shuttle gegen das hier ein Kinderspiel gewesen ist. Die Arme vor dem Körper verschränkt, die Zähne aufeinander gebissen, alle Muskeln gespannt wartet er auf den Aufprall, der ihn mit der Wucht eines mittleren Autounfalls in seinem Sitz zusammen staucht. Hinterher ist er ein bisschen benommen. Er fühlt, dass er mit dem Gesicht nach unten in seinen Gurten hängt und wundert sich über die Selbstverständlichkeit, mit der er zu dieser Feststellung gekommen ist.
Sie schälen ihn aus der engen Luke. Erst den Kommandanten, dann Sascha, dann Robert. Sein fremder Körper sitzt auf einem Stuhl. Lächeln geht schon. Den Gebrauch der Gliedmaßen hat er verlernt. Über Brust und Bauch fühlt er die Schweißtröpfchen nach unten laufen. Er würde sich jetzt gerne kratzen.
„Katharina“, denkt er, „jetzt hast du einen Krüppel im Haus.“

© Christa Feuerbacher