Am Bug

(Vorgestellt auf der LitCologne 2010 im Rahmen der Aktion „Verlangt eingesandt“)

Valerij stand am Bug und sah das schmutzig-grüne Wasser zu seinen Füßen vorbeirauschen. Der Fluss war so schmal und seicht, dass keine Schiffe auf ihm fahren konnten. Dieser Bug teilte nicht das Wasser. Dieser Bug teilte Brest von Terespol, Weißrussland von Polen, Hoffnungslosigkeit von Hoffnung. Und an dieser Linie, prosaisch „EU-Außengrenze“ genannt, stand Valerij und schaute hinüber nach Westen. Alles Treibgut, was da im Fluss trieb, Äste, Flaschen, Papier, alles zog der Fluss mit sich fort. Ein Zweig mit noch grünen Blättern trieb heran, berührte das Ufer und blieb kurz an einem Busch hängen. Aber gleich darauf erfasste ihn wieder die Strömung und trug ihn mit nie nachlassender Geschwindigkeit mit sich nach Norden, über Narew und Weichsel der Ostsee entgegen. Valerij schaute dem Zweig hinterher, bis er seinem Blick entschwand. Wie die Perspektive auf die Zukunft schien da sein ganzes Leben davon zu treiben. Hier würde er nie auf den sprichwörtlichen „grünen Zweig“ kommen. Er fragte sich, ob es wohl anders wäre, hätte er nicht sein Ingenieursstudium abbrechen müssen, als die Gebühren zu hoch wurden. Jedenfalls fand er keine Arbeit, die genug abgeworfen hätte, um eine Familie zu versorgen. Jetzt, wo die kleine Petja geboren war und Oksana nicht mehr mitverdienen konnte, würde es nicht mehr lange reichen. Das zweite Kind war ein Fehler gewesen, dachte Valerij, und im selben Moment schämte er sich für diesen Gedanken. Aber bedeuteten Kinder nicht Not, und spielte nicht die Not die Armen den Reichen in die Hände?

Der Bug war jetzt zum Rubikon geworden. Die Menschen am östlichen Ufer waren allerdings keine Eroberer, sondern Hoffnungssuchende, die sich und ihren Familien die Chance auf ein besseres Leben verschaffen wollten, auch, wenn sie sie dafür verlassen mussten.

Valerij hatte nie daran gedacht, in den Westen zu gehen; illegal noch dazu. Nun aber ließ ihm die entstandene Ordnung keinen anderen Weg als den über den Fluss. Der unspektakuläre Bug schien leicht zu überwinden: nachts mit dem Boot hinüber, vorbei an Grenzern und Wachhunden, eine abenteuerliche Flucht, so, wie in den alten Zeiten der in Ost und West geteilten Welt. Aber nicht einmal für solche Heldenszenarien war heute noch Platz. Wer es auf diese Art versuchte, den würden die polnischen Grenzer bald aufgreifen. Die Wirklichkeit war viel banaler: Wer die Welt der Käuflichkeit aller Menschen und Dinge betreten wollte, musste schon vor dem Eingang zahlen. Schon die Chance war kostenpflichtig. So strich ein Schleuser Valerijs letzte Ersparnisse ein, und dann ging es versteckt in einem Lastwagen über die Brücke, vorbei an bestochenen Grenzpolizisten. Auch Staatsdiener hatten ihren Preis, und sie dienten immer dem, der ihnen am meisten zahlen konnte.

Wochen später stand Valerij im Büro des Verwalters einer Lagerhalle in einem grauen Vorort von Frankfurt an der Oder. Dieser Fluss, der seine Rolle als Rubikon an den Bug abgetreten hatte, war kein Hindernis mehr, seit an der Grenze nicht mehr kontrolliert wurde. Der Lagerverwalter schien fest mit seinem Sessel verwachsen, denn er hielt es nicht einmal für nötig, aufzustehen. Seltsam, dachte Valerij, denn es schien ihm, als trüge der Mann über einer zugeknöpften schwarzen Weste einen Stehkragen mit altmodischer Schleife, als sei er einem Buch von Charles Dickens entsprungen.

„Was kannst du denn?“, fragte der im Manchesterstil gekleidete Mensch im Sessel.

„Gabelstapler fahren“, brachte Valerij in holprigem Deutsch heraus. „Habe ich gemacht in Minsk.“

„ So, so“, meinte der Verwalter. „Hast du ein Zeugnis?“

„Ja, aus Minsk.“

„Damit kannst du hier nichts anfangen“, meinte der Verwalter. „Aber für vier Euro zwanzig die Stunde kannst du als Packer anfangen. Das ist eine Menge Geld für einen wie dich. Aber dafür musst du auch was tun. Und wenn du Mist baust, fliegst du ganz schnell wieder raus. Es gibt viele da draußen, die scharf auf den Job sind.“

Mehr als die dreiste Unverblümtheit dieser Worte verblüffte Valerij das Erscheinungsbild des Verwalters, das sich, während er sprach, erneut zu verändern schien: Plötzlich trug er hohe Lederstiefel und Reithosen, alles wiederum in Schwarz.

Schwarz blieb auch die Jacke, aber der hochgeschlossene Kragen wurde plötzlich von silbernen Spiegeln verziert, und eine rote Binde mit einer weißen Scheibe darauf zog sich um seinen linken Arm. In seinem feisten Gesicht zeigte sich ein kümmerliches Bärtchen und der Schatten einer Brille mit runden Gläsern.

Valerijs Phantasie hatte ihm einen Streich gespielt. Ab und zu sah er Menschen im Stil der Zeit gekleidet, in die sie ihrem Wesen nach gehörten.

Valerijs Phantasien verblassten, und als er den Verwalter wieder in Alltagskleidung vor sich sah, kamen ihm Worte in den Sinn, die er ihm am liebsten ins Gesicht geschleudert hätte.

„Wenn ich auch abhängig bin von deinesgleichen – ich verachte dich. Ich verachte dein schäbiges Mittelmaß und deinen berechenbaren Egoismus.“

Aber er brachte nichts davon heraus.

„Ich danke, Boss“, war alles, was er sagte.

Valerij bekam den Job, wenn auch nur auf Probe, und so betrachtet, konnte er sich nicht einmal beklagen. Freilich dauerte es acht Wochen, bis er seinen ersten Lohn sah. Dafür musste er Kisten auspacken, Waren umpacken, Waren einpacken, Kisten hin-und herschieben; alles mit den Händen. Mit dem Gabelstapler fuhr ein anderer. Zwar hatte man Valerij in Aussicht gestellt, dass er an die Reihe käme, wenn der Kollege einmal ausfiel, aber das kam in drei Monaten kein einziges Mal vor.

Und jetzt stand Valerij wieder am Bug. Diesmal schaute er nach Osten, wo er viele Kilometer hinter der Grenze seine Familie, seine Frau und seine Kinder wusste. In ein paar Stunden würde er sie wiedersehen, zum ersten Mal seit einem Vierteljahr. Er hatte für sie gearbeitet, er hatte ihnen Geld geschickt, aber er hatte nicht bei ihnen sein können.

Als er so dastand und auf den Fluss blickte, sah er das schmutzige Wasser auf sich zuströmen. Zuerst waren da nur ein paar kleine Schaumflecken, die auf dem Wasser wirbelten. Dann wurden es mehr und mehr, bis sie sich schließlich zu einem einzigen großen Schaumteppich vereinigten, der wie eine Welle auf ihn zukam. Und unter dem Schaum sah er viel mehr, was da heranbrandete:

Arbeit gegen lächerlich geringen Lohn.

Die erzwungene Teilnahme an der Zerstörung der Natur und einer immer ungerechteren Verteilung der Ressourcen.

Überforderung in einem sich bis ins Absurde steigernden Verdrängungswettbewerb.

Leistungsdruck in einem System, das die Welt verbrauchte und den Menschen verschlang.

Valerij sah den Schaum auf der Bugwelle, die Schmutz heranspülte und Illusionen mit sich fortriss. Wie oft würde er wohl noch zwischen den beiden Ufern dieses Flusses wechseln müssen?

© Jörg Wartschinski