Siehe, es begab sich…

Der Nazarener verweilte mit seinen Jüngern in einem Dorfe. Mit einem Mal hörten sie ein Ge­schrei, und einer der Jünger lief, herauszufinden, was die Ursache war. „Herr“, rief er, als er zurückkam, „sie haben eine Ehebrecherin verurteilt und sind zusammenge­kommen, sie zu steinigen.“

Kaum hatte der Nazarener dies gehört, erhob er sich und bedeutete seinen Jüngern, ihm zu folgen. Eilends begaben sie sich an die Stelle, wo sich das Volk versammelt hatte, die Ehebre­cherin zu bestrafen. Man hatte sie in eine Grube gestellt, und das Ende der Grube wurde von einer Mauer beschlossen. Neben der Frau, die in ein schwarzes Gewand gehüllt war, das zum Zeichen der Schande halb zerrrissen war, stand ein Priester in einem weißen Umhang und mit einer hohen weißen Haube auf dem Kopf, der ihr das Urteil noch einmal verlas. Die Männer des Dorfes schritten in einer Reihe an ihr vorbei, und ein jeder bückte sich einmal, um einen Stein vom Boden aufzuheben. Nachdem sie alle vorbeigeschritten waren, stellten sie sich vor der Grube auf, jeder mit einem Stein in der Hand. Die Frauen des Dorfes mußten in ihren Häusern bleiben; verstohlen schauten sie durch die Fenster auf den Platz vor der Grube.

Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Der Nazarener mit seinen Jüngern bahnte sich eine Gasse zwischen das Volk. Er deutete auf die Frau in der Grube und fragte:

„Was hat die da getan?“

„Sie hat die Ehe gebrochen“, kam die vielstimmige Antwort. „Und es steht geschrieben, eine Frau, die solches tut, soll zu Tode gebracht werden.“

Der Nazarener nickte.

„Ja, das steht geschrieben“, sagte er. „So haben es eure Vorfahren für richtig erkannt. Aber haltet auch ihr es für richtig?“

Die Männer des Dorfes schauten einander fragend an.

„Was redest du?“ sagte am Ende einer von ihnen. „Es steht geschrieben, weil es das Wort Gottes ist, das wir erfüllen müssen.“

„Nur deshalb?“ fragte der Nazarener. „Ich mahne euch, überlegt es wohl: Würdet ihr auch tun, was geschrieben steht, wenn ihr es für falsch hieltet?“

Nun hielt es der Priester für gegeben, sich zu Wort zu melden.

„Was ist das für eine Frage, Nazarener?“, rief er. „Wie kann denn etwas falsch sein, das von Gott kommt?“

„Du hast recht“, meinte der Nazarener. „Das kann kaum jemals sein. Aber was macht euch so sicher, daß ihr das Wort Gottes richtig versteht? Denn es steht auch geschrieben: ‘Gottes Wort ist anders als Menschenwort’.“

„Das sind Meisterfragen, ausgedacht, das Volk zu verwirren“, sagte der Priester. „Seit Menschengedenken wird das Wort Gottes verbreitet. Ein Priester gab den Sinn weiter an den nächsten. Unzählige weise Männer haben ihn ergründet, um ihn dem Volk nahezubringen. Willst du sagen, daß alle diese Männer geirrt hätten?“

„Aber das sei fern von mir!“ erklärte der Nazarener und breitete seine Arme aus. „Wie könnten so viele weise Männer sich irren? Doch ich frage mich: Wollten all diese weisen Männer wirklich den Tod dieser Frau?“

Bei diesen Worten deutete er zu der Grube hinüber.

„Versteht ihr?“ fuhr er fort. „Diese weisen Männer sind lange dahingegangen. Wir können sie nicht fragen, ob sie jetzt den Tod dieser Frau fordern. Wir haben nichts von ihnen als Worte, aus verblichenem Pflanzensaft auf vergilbtem Pergament. Sind diese verblaßten Worte aus trockener Tinte von größerem Wert als das frische Blut, das im lebenden Menschen fließt?“

Der Priester schüttelte den Kopf.

„Gottes Worte können niemals verblassen. Und wir können uns nicht aussuchen, an welche davon wir uns halten wollen und an welche nicht. Wenn wir glauben, nehmen wir sie im Ganzen an; wer sie ablehnt, ist ohne Glauben.“

„Du sagst es“, meinte der Nazarener. „Wer glaubt, gibt Worten viel Macht; vielleicht zuviel. Kein Geschöpf auf der Welt hat ein Gewissen außer dem Menschen. Benutzt es! Prüft euren Glauben an eurem Gewissen! Wenn es ein guter Glaube ist, hält er dieser Prüfung stand.“

„Was nennst du einen guten Glauben?“ fragte der Priester.

Der Nazarener sah zuerst auf den Priester, dann über die versammelte Menge hin bis zu der Frau in der Grube. Zuletzt wandte er sich wieder dem Priester zu.

„Einen, der nicht täglich mit Blut besiegelt werden muß“, sagte er schließlich. „Seht diese Frau an! Sie hat gesündigt, und es ist gerecht, sie dafür zu strafen. Euer Glaube fordert ihr Blut. Aber wollt ihr nicht lieber milde sein und sagen ‘Du hast gesündigt, aber dir sei verge­ben, wenn du von jetzt an nicht mehr sündigst’?“

Dann bückte er sich und hob einen Stein vom Boden auf. Den Stein hob er hoch in die Luft und rief der Menge zu:

„Wollt ihr mit Sündern zusammenleben, die ihre Tat bereuen, oder wollt ihr jeden Sünder sogleich steinigen? Ich frage euch: Ist einer unter euch, der ohne Sünde ist? Dann nehme er diesen Stein und werfe als Erster!“

Da aber trat der Priester vor ihn hin, nahm ihm den Stein aus der Hand und sprach:

„Du hast genug geredet, Nazarener! Das ist unser Glaube und unser Gesetz; und jeder weiß, was geschieht, wenn er sich daran vergeht. Behindere nicht länger das Gesetz in seinem Lauf! Das Urteil ist gesprochen; es lautet: Tod!“

Und er schleuderte den Stein von sich, hinein in die Grube, wo er weit vor der Verurteil­ten zu Boden fiel, denn er hatte nicht beabsichtigt, sie zu treffen. Nun aber erhob sich in der Menge ein Geheul, und es flog nicht einer, sondern ein ganzer Haufe von Steinen mit einem Male auf die Verurteilte nieder. Einer davon traf sie an der Schläfe, und ohne einen Laut stürzte sie hin, doch aus der Menge flogen immer noch mehr Steine auf sie, und so steinigten sie sie zu Tode, wie sie es beschlossen hatten.

Als er das sah, schlug der Nazarener die Hände vor sein Gesicht, und seine Jünger drängten sich um ihn und zogen ihn zur Seite, damit sich der Mob nicht auch an ihm vergreife.

Nachdem die Tat vollbracht war, legte sich die Raserei der Menge, und als sie den Ertrag ihrer Tat erkannte, kehrte alsbald bedrückte Stille ein, und manche begannen zu zweifeln. Leise traten einige an den Rand der Grube, um einen Blick auf die Verurteilte zu tun. Auch der Nazarener trat hinzu und erkannte, daß viele von ihnen verstohlen, fast beschämt auf ihr Werk schauten. Der Nazarener sah ihnen fest in die Augen und sprach:

„Bittet den Herrn um Vergebung, und betet, daß er, wenn ihr einst vor seinem Thron stehen werdet, milder über euch richten wird, als ihr es über diese Frau tatet.“

Seine Worte verklangen und blieben ohne Erwiderung. Niemand aus der Menge sprach aus, was er fühlte. Hatte man Unrecht getan, wo man doch nur dem Wort des Gesetzes gefolgt war? Schweigend, ohne noch länger zu verweilen, trennten sie sich voneinander und schlichen davon, ein jeder zu seinem Hause. Der Nazarener schaute ihnen lange nach; jedoch da war niemand, der seinem Blick standgehalten hätte. Als aber lange Zeit später einer in dieses Dorf kam, um die Taten des Nazareners aufzuschreiben, schämten sich die Ein­wohner des Geschehens so, daß sie es ihm nicht so berichteten, wie es sich tatsächlich ereignet hatte, sondern ihm einen Ausgang gaben, der den Nazarener geachtet und sie selber geehrt hätte – und so kam es, daß die Geschichte in jener Form Eingang in die Schriften fand, und so ist sie überliefert bis auf den heutigen Tag.

© Jörg Wartschinski