Mein Trauma (Kurzfassung)

Seit ich denken kann, verfolgen sie mich! Schon meine früheste Kindheit wurde davon überschattet und mein Leben wäre anders, gewiss glücklicher, verlaufen, wenn ich nicht so grausam und unsensibel schon als Kleinkind mit ihnen in Verbindung gekommen wäre. Diese großen, schwarzen oder braunen, narbigen, mit kalten Schlössern und Beschlägen, Bügeln und langen Riemen versehenen
H A N D T A S C H E N.

Die erste Handtasche, an die ich mich erinnern kann war die meiner Großmutter. Sie hatte meist kleinere mit Schnappbügel, glattes oder krokodilhautartig genarbtes Leder, braun, grau oder schwarz. Öfter durfte ich meine Oma zu notwendigen Einkäufen in die Stadt begleiten. Die Konditorei, in der meine Oma sich eine Tasse Kaffee und ein Stück Frankfurter Kranz gönnte, war der krönende Abschluss der Einkäufe. Dann bekam ich eine Tasse Kakao mit einem Sahnehäubchen, und immer, wirklich immer, fragte meine Oma mich, bevor sie der Kellnerin zum bezahlen winkte: „Willst Du einen Bonbon?“ Ich habe niemals nein gesagt und mit verschwörerischer Miene öffnete meine Oma den Schnappverschluss und faltete Ihre kleine Handtasche auf.

Heraus strömte ein Duftgemisch von 4711 und Fenchel- und Eukalyptusbonbons. Der Duft des 4711 kam von dem Spitzentaschentuch, das Oma kräftig getränkt, zusammen mit einigen, in grünes Papier eingewickelten Bonbons in einem Seitenfach der Handtasche verstaut hatte. Ich wollte das Bonbon, auch wenn der beißende Geruch des Parfüms eigentlich jeden Geschmack darauf verdarb und, wie ich aus zahlreichen Caféhausbesuchen wusste, bis in den Kern der Bonbons durchschmeckte. Noch heute habe ich, wenn ich nur Wörter wie Fenchel, Bonbon, Handtasche, Konditorei, Café oder 4711 höre oder denke, auch während ich diese Zeilen schreibe, diese Duftkombination in der Nase. Ich wurde für immer geprägt, so, wie man Ratten oder Mäuse in Experimenten durch Stromstöße oder der Dosierung von Futter zu widernatürlichen Handlungen und Verhaltensweisen zwingt.

Handtasche, das hatte natürlich nicht nur mit Oma zu tun. Meine Oma hatte, wie schon erwähnt, kleine oder mittlere Handtaschen. Sie war ja auch eine kleine, zierliche und bescheidene Person. Meine Mutter hingegen bevorzugte die größeren Varianten. Gigantische, formlose Lederbeutel mit Schulterriemen, rot, weiss, blau oder braun in die man alles, was man hatte, tief versenken konnte und niemals dann fand, wenn man es brauchte.

In der Handtasche meiner Mutter befand sich, neben dem Portemonnaie, allerlei Krimskrams. Kalender in die nie ein Eintrag gemacht wurde, Zigaretten, die sie nicht rauchte, Parfümfläschchen, Taschentücher – aus Papier wie aus Stoff, Lippenstifte, Nagelscheren, Pflasterstreifen, Bonbons, Kekse, Brillen und Pillen, Stifte und Knirps sowie viele andere Dinge, die sich in dem unerforschten Raum am Boden sammelten und deren Notwendigkeit ich, schon wegen des Bruttogewichtes, immer anzweifelte. Immer wenn meine Mutter etwas in ihrer unergründlichen Handtasche suchte, grub sie sich durch mehrere Schichten durch. Niemals hat sie etwas auf Anhieb gefunden.

Und was wurde für die Handtasche, für die Erleichterung der geplagten Frau nicht alles erfunden! Sogar Handtaschen mit Innenbeleuchtung, die, wie beim Kühlschrank, aufflammt, wenn man die Handtasche öffnet! Aber was der Erfinder nicht berücksichtigt hat: Die Frau will das Chaos, das in ihrer Handtasche herrscht, ja nicht noch beleuchtet sehen. Oder gar Anderen, die sich neben ihr befinden, Einblick in das Sammelsurium geben. So blieb die Innenbeleuchtung für Handtaschen genauso ein Ladenhüter, wie der Tischhängehaken für die Handtasche, den meine Mutter besaß. Eine gummibelegten Metallplatte mit einem daran befestigten Haken um die Handtasche an der Tischkante aufzuhängen und griffbereit zu halten. Ich habe diese segensreiche Erfindung, von dem der Erfinder sich sicherlich Millionenumsätze versprochen hatte, als er sie zu Serienreife entwickelte, niemals bei meiner Mutter im Einsatz gesehen, obwohl sie sie stets mitführte.

Nicht einmal, sondern mehrfach sind wir zum Sonntagsausflug in nahe gelegene Ausflugsgebiete gestartet. Das lief in etwa immer nach folgendem Schema ab: Mit laufendem Motor saßen mein Vater, mein jüngerer Bruder und ich – meine älteren Geschwister wussten, warum sie früh aus dem Haus gegangen waren – im Auto und warteten auf meine Mutter. Nach etwa zehn Minuten hupte mein Vater zumeist dreimal. Wenn sich dann innerhalb von zwei- bis drei Minuten nichts tat, wurden die Hupenstöße länger und in kürzeren Intervallen abgegeben. Meine Mutter erschien, mit Handtasche, den Mantel noch nicht zugeknöpft, und bestieg das Auto. Das war für meinen Bruder und mich das Signal die Köpfe reflexartig einzuziehen. Denn jetzt schleuderte meine Mutter, gleich einer Hammerwerferin bei der Olympiade, ihre Handtasche von vorne über die Rückenlehne zu uns auf die Rückbank. Bei den großformatigen, schweren Taschen war Deckung angesagt. Nicht selten streifte sie dabei den Hut meines Vaters von seinem Kopf.

Im anderen Fall fragte meine Mutter nach einigen Kilometern Fahrt nach hinten „Habt ihr meine Handtasche?“ Doch bereits mit der Fragestellung wusste sie, das die Antwort „Nein“ lauten würde. Das löste bei meinem Vater wiederum den Reflex aus, nach der nächsten Wendemöglichkeit zu suchen um umzudrehen, weil die Handtasche zuhause vergessen war.

Wenn meine Eltern spazieren gingen, oder gemeinsame Reisen unternahmen, trug mein Vater die Handtasche meiner Mutter, sofern wir Jungs nicht dabei waren. Ich hasste es, den halben Sonntagnachmittag die Handtasche meiner Mutter, die wegen der vielen nutzlosen Gegenstände, die sie enthielt ziemlich schwer war, hinterher zu tragen. Das alles hat sich bei mir zum Syndrom, das in der Fachsprache der Psychologen ja auch Handtaschensyndrom genannt wird, entwickelt.

Es gibt ein Foto meines Vaters am Strand irgendwo an der Nordsee, mit der Handtasche meiner Mutter. Sollte mir das als Vorbild dienen? Gottlob nicht, denn ich gehöre ja zu den 68ern. Wir waren revolutionär, trugen Jeans und lange Haare und die Mädels hatten keine Handtaschen. Bis, ja bis jemand auf die Idee kam, naturlederne Handtaschen in Form einer alten Doktortasche auf den Markt zu bringen. Plötzlich rannten die Mädels, die vorher mit dem, was sie in den Taschen ihrer Jeanshosen mit sich tragen konnten, auskamen, mit diesen unergründlichen und ganze Kubikmeter fassenden Taschen herum und die Kramerei ging los.

Was sich bei mir durch einen langsamen und segensreichen, seelischen Heilungsprozess über Jahre positiv entwickelt hatte, eine erste zaghafte Überwindung der Handtaschenphobie – durch die es mir zeitweise sogar möglich wurde, mich einer Handtasche weniger als drei Meter zu nähern, war mit einem Schlag zunichte gemacht. Eine Freundin nach der Anderen entdeckte die unwiderstehliche Anziehungskraft der Handtasche, des mobilen Stauraums.

Eine Ehe kam und zerbrach, danach eine Lebensgefährtin, die abgelegte Handtaschen heimlich in unseren Koffern auf dem Dachboden deponierte, – auch diese Verbindung hielt danach nicht mehr lange. Unsere Tochter, heute zwölf Jahre alt, ist ein hübsches und liebenswertes Geschöpf. Zum zwölften Geburtstag hat sie sich etwas Geld gewünscht. Einige Tage später ist sie in die Stadt gefahren. Und was hat sie sich gekauft? Eine großformatige
H A N D T A S C H E ! Es muss bei den Frauen in den Genen verankert sein. Mein Therapeut meint, ich müsse mich damit abfinden, er sei deswegen auch in Behandlung.

© Jo Hagen