Besuch am Morgen

Aus der Gegensprechanlage, die Janas Büro mit dem Vorzimmer verband, erklang eine Stimme.
„Frau Dittricksmayer?“, sagte die Vorzimmerdame. „Hier ist ein Herr Oskar Erlwein, der zu Ihnen möchte.“
„Erlwein?“ Jana überlegte kurz. Nein, der Name sagte ihr nichts.
„Schicken Sie ihn bitte herein“, sagte sie.
Gleich darauf öffnete sich die Tür, und ein seriös gekleideter Mann von etwa 50 Jahren trat ein, vom Typ Geschäftsmann. Er stellte sich kurz vor, doch als Jana ihn aufforderte, sich zu setzen, zögerte er zuerst ein wenig.
„Es handelt sich um eine etwas heikle Angelegenheit“, meinte er entschuldigend und setzte sich auf die Kante des Sessels.
Jana sah ihn aufmerksam an.
„Sie meinen sicher die Veranstaltung am letzten Wochenende?“
Der Mann nickte. Umständlich kramte er ein goldenes Zigarettenetui hervor, das an den Kanten schwarz verziert war, und nahm eine Zigarette heraus.
Jana hob einen Kugelschreiber vom Schreibtisch auf und hielt ihn in die Luft.
„Entschuldigen Sie, aber ich muss Sie bitten, hier nicht zu rauchen.“
Erlwein stutzte, dann ließ er die Hand mit der Zigarette sinken.
„Ja, diese Swingergeschichte“, sagte er.
Jana schüttelte den Kopf.
„Keine Swingergeschichte. Es war ein Event zum Thema ‚Erotik und Fantasie‘.“
Erlwein drehte die Zigarette zwischen den Fingern.
„Ich hatte aber doch den Eindruck von einem Swingerclub. Warum sonst haben Sie das alles getan? Die erotischen Bilder an den Wänden, und dann noch die Sache mit den Mönchskutten. Alle sollten diese Kutten anziehen – und nichts darunter!“
Jana ließ den Kugelschreiber auf der Tischplatte kreisen.
„Nackte Haut unter weißer Seide. Was ist dagegen einzuwenden? Alles ist verhüllt, aber nichts engt ein. Ich finde das sehr angenehm.“
Erlweins Zigarette wippte zwischen seinen Fingern auf und ab.
„Und dann haben Sie noch diese pornografische Geschichte vorgelesen.“
„Die Geschichte vom Lastträger und den drei Damen? Darin passiert überhaupt nichts. Es werden nur Dinge beim Namen genannt. Und weil die Geschichte aus Tausendundeiner Nacht stammt, auch nur auf Arabisch.“
„Wie dem auch sei.“ Erlwein begann, die Zigarette von einem Finger zum anderen wandern zu lassen. „Aber dann haben Sie die Leute hinauf in die Séparées geschickt. Das war doch eindeutig.“
‚Geschickt, wie er das macht!‘, dachte Jana.
„Ich sagte aber auch, wir könnten nicht kontrollieren, ob auch immer die richtigen Partner zusammen nach oben gehen.“
„Aber hören Sie!“ Abrupt stoppte Erlweins Zigarette ihre Wanderung. „Sie wissen doch so gut wie ich, dass niemand zu so etwas seine Ehefrau mitnimmt.“
Jana lehnte sich zurück und sah ihn abschätzend an.
„Wenn Sie das sagen. – Worin besteht denn jetzt genau Ihr Problem?“
„Stimmt es, dass Sie die Séparées jetzt zur Besichtigung freigegeben wollen?“
Jana ließ die Mine ihres Kugelschreibers ein- und ausschnappen.
„Das ist richtig. Das war überhaupt der Zweck des Events. Die erotischen Bilder und die Vorlesung sollten die Fantasie anregen. In den zehn Séparées, die wir im ersten Stock eingerichtet hatten, sollten die Pärchen dann ihre Fantasien ausleben und dabei nach Kräften Spuren hinterlassen. Nun sollen die Besucher diese Spuren sehen und sich dabei wieder ihre Fantasien machen.“
„Aber das geht doch nicht! Sie können Ihre Gäste nicht derart bloßstellen!“
„Niemand wird bloßgestellt. Niemand weiß, wer mit wem auf welchem Zimmer war. Alles bleibt anonym.“
„Eben nicht!“
Erlwein sprang aus seinem Sessel auf. Nervös begann er, im Zimmer auf und ab zu laufen.
Jana beugte sich vor. Die Kugelschreibermine hatte aufgehört zu klicken.
„Können Sie mir das vielleicht erklären?“
Erlwein wandte sich zu ihr um.
„Ich habe etwas in dem Zimmer vergessen. Einen Gegenstand, der mich verraten könnte.“
Jana sah ihn ruhig an.
„Man kann in die Zimmer hineinsehen, sie aber nicht betreten. Die Türen wurden durch Glasscheiben ersetzt. Wenn Sie nicht gerade Ihren Personalausweis auf die Türschwelle gelegt oder Ihr Foto auf dem Nachttisch stehen gelassen haben, wird niemand erfahren, dass Sie dort waren.“
Erlwein kam mit raschen Schritten heran und setzte sich wieder.
„Trotzdem! Ich bitte Sie: Lassen Sie mich noch einmal in das Zimmer, damit ich den Gegenstand herausholen kann.“
Jana machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Sehen Sie, die Idee dieses Events war Authentizität. Was in den Zimmern passiert ist, soll unverändert bewahrt werden. Jede nachträgliche Veränderung würde den authentischen Eindruck zerstören. Dann könnten wir ja gleich künstlich dekorierte Zimmer zeigen, in denen gar nichts passiert ist.“
Erlwein presste seine Zigarette in der Hand zusammen, als wollte er sie zerquetschen.
„Aber einen kleinen Gegenstand herauszunehmen ist doch keine Veränderung.“
Jana ließ wieder ihren Kugelschreiber auf der Tischplatte rotieren.
„Wenn es nur ein kleiner Gegenstand ist, wird ihn vermutlich sowieso niemand bemerken. Und die Ausstellung dauert nur 14 Tage. Dann bekommen sie ihn ohnehin wieder.“
Erlwein schlug mit der Faust auf die Sessellehne.
„Ich will ihn aber jetzt wiederhaben!“
„Worum handelt es sich denn überhaupt?“
Erlwein hantierte fahrig mit seiner Zigarette herum und hätte sie beinahe fallen gelassen. Er zögerte. Dann deutete er auf die Zigarette und zeigte die andere, leere Hand.
„Um ein Feuerzeug Ein wertvolles Feuerzeug, das ich wiederhaben möchte, damit es nicht verloren geht.“
„Die Zimmer sind bereits hinter Glas versiegelt. Es kann nichts verloren gehen. Und ein Feuerzeug kann Sie doch nicht verraten. Oder steht Ihr Monogramm darauf?“
Erlwein nickte langsam.
„Es ist ein Geschenk von meiner Frau. Sie würde es sofort wiedererkennen. Auch, wenn ihr nur jemand davon erzählt.“
Jana trommelte einige Sekunden unschlüssig mit dem Kugelschreiber auf dem Schreibtisch herum.
„Ich könnte nachschauen, ob das Feuerzeug überhaupt von der Tür aus zu sehen ist. Wenn nicht, machen Sie sich ganz unnötig Gedanken.“
Je entspannter sich Jana in ihrem Sessel zurücklehnte, desto nervöser wurde Erlwein. Wieder sprang er hektisch auf und zerbrach dabei seine Zigarette.
„Was ist so schwierig daran, mir das verdammte Feuerzeug zurückzugeben? Es gehört mir. Ich will es wiederhaben. Jetzt! – Oder hat es womöglich schon jemand genommen? – Sie vielleicht?“
Jana deutete auf die Schreibtischplatte.
„Ich rauche nicht. – Aber was ist denn mit der Frau, mit der Sie auf dem Zimmer waren? Die könnte Sie doch auch verraten, Feuerzeug hin oder her. Das Risiko geht jeder ein, der fremdgeht.“
Das Wort wirkte wie ein Signal. Wieder begann Erlwein, im Zimmer auf und ab zu laufen.
„Wollen Sie mir jetzt Moral predigen? Ausgerechnet Sie? Ich sage nur: ‚Nackte Haut unter weißer Seide‘!“
Janas Hand krampfte sich um den Kugelschreiber.
„Jedenfalls bin ich nicht fremdgegangen, sondern Sie.“
Erlwein zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Jana, als hätte er statt der zerbrochenen Zigarette eine Waffe in der Hand.
„Mit welchem Recht setzen Sie sich auf ein so hohes Ross – Frau Buczkowiak?“
Jana setzte den Kugelschreiber mit hörbarem Geräusch auf dem Schreibtisch auf.
„Sie sind gut informiert. Aber ich heiße Dittricksmayer. Schon seit sechs Jahren.“
„Ja, das haben Sie geschickt angestellt!“
Seine Stimme wurde lauter und zorniger.
„So können nur Frauen Karriere machen: Mit dem Arsch wackeln, sich von einem reichen Mann besteigen lassen und ihn dazu bringen, sie zu heiraten – so kann eine Kneipenbedienung in höhere Kreise aufsteigen, die mit zwanzig vor fremden Männern nackt auf dem Tresen getanzt hat!“
Um Janas Mund zuckte es ein bisschen. Sonst verzog sie keine Miene.
„Oh, wir werden unsachlich!“, konstatierte sie kühl. „Erstens habe ich nie nackt getanzt, und zweitens war ich damals, wie Sie schon sagten, zwanzig. Aber was ist verwerflicher: mit zwanzig vor Männern tanzen – oder mit fünfzig seine Frau bescheißen?“
Sie sah, dass es in Erlwein kochte. Sicher suchte er gerade alle ihm bekannten Schimpfwörter zusammen, um sie ihr an den Kopf zu werfen.
„Ich warne Sie!“, zischte er. „Legen Sie sich nicht mit mir an! Ich werde nicht zulassen, dass eine hochgekommene Asphaltpflanze mein Leben zerstört.“
„Soso, Ihr Leben!“, wiederholte Jana ungerührt und unterstrich ihre Worte wieder mit dem Klicken des Kugelschreibers. „Ich dachte, nur Ihre wohlanständige Fassade.“
Erlwein schleuderte die Reste seiner Zigarette auf den Boden.
„Bevor Sie mich fertigmachen, mache ich Sie fertig“, versprach er. „Ich habe einflussreiche Freunde und kann dafür sorgen, dass Sie Ihr ‚Etablissement‘ bald dicht machen können.“
Jana drehte betont lässig ihren Kugelschreiber zwischen den Fingern.
„Mit Ihrer Art können Sie vielleicht die jungen Mädchen beeindrucken, die unverständlicherweise das Bett mit Ihnen teilen“, erwiderte sie beherrscht. „Ich bin über 40 und lasse mich nicht mehr so leicht einschüchtern. Sie sind ein ganz gewöhnlicher Fremdgänger, der Angst hat, seine Frau und seine ‚einflussreichen Freunde’ könnten von seinen Ausritten erfahren. Ich bin sicher, Ihre Frau ahnt längst etwas. Frauen sind nicht so dumm, wie Männer es gern hätten. Aber sie sagt nichts; auch sie will die Fassade bewahren. Es ist Interessant, wie Sie meine These bestätigen: Je höher man in der Hierarchie kommt, desto weniger Charakter bleibt übrig.“
„Ich werde…, ich werde…“
Erlwein rang nach Worten, aber er fand keine, mit denen er noch mehr hätte auftrumpfen können.
Jana legte den Kugelschreiber hin und schob ihn ganz zur Seite.
„Bevor Sie Ihr Niveau noch weiter unterbieten, sollten wir diese Unterhaltung jetzt beenden.“
Sie öffnete eine Schublade des Schreibtischs, griff hinein und holte ein kleines Objekt heraus. Erst, als sie die Hand öffnete und es mitten auf dem Schreibtisch abstellte, wurde es erkennbar: ein goldenes Feuerzeug mit schwarz verzierten Kanten und einem Monogramm: O. E.
Erlwein sah überrascht und erstaunt auf den vertrauten Gegenstand.
„Sie hatten es die ganze Zeit hier?“
Jana lehnte sich zurück.
„Wir wussten nicht, wem es gehört und konnten ja schlecht einen Aufruf im Web machen. Im Übrigen stellen wir persönliche Dinge, die ein Gast verloren hat, niemals öffentlich aus.“
Erlwein hob das Feuerzeug rasch auf und sah es prüfend an.
„Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“
„Ich wollte wissen, mit wem ich es zu tun habe. Es hätte ja auch sein können, dass Sie souveräner mit der Sache umgegangen wären. Stattdessen haben Sie mir gezeigt, was für ein Glück ich doch mit meinem Mann habe.“
Sie stand von ihrem Sessel auf, während Erlwein fast zärtlich sein Feuerzeug wieder einsteckte.
„Ein Geschenk von Ihrer Frau – und Sie lassen es im Puff liegen!“, tadelte sie ihn spöttisch. „Typisch Mann! – Sie sehen, Ihr Auftritt wäre gar nicht nötig gewesen. Was immer ich auch von Ihnen halte, Sie waren mein Gast. Und meine Gäste können sich auf meine Diskretion verlassen.“
Sie begleitete ihn zur Tür und öffnete sie für ihn. Als er hinausging, verabschiedete sie ihn breit lächelnd mit den Worten:
„Aber ich kann Sie verstehen. Menschen mit Prinzipien treffen Sie in Ihren Kreisen ja nur selten.“

© Jörg Wartschinski