Du bist alt, ich bin alt.
Und ich spüre von Tag zu Tag mehr.
Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.
Und dabei liegen mir noch so viele Fragen auf dem Herzen, die ich dir nie zu stellen wagte:
Wie war das für dich, damals, bei der ersten sexuellen Begegnung mit meinem leiblichen Vater, was hast du da empfunden? Lust? Befriedigung?
Was hast du gefühlt, als dein Körper die Schwangerschaft signalisierte?
Ich weiß, deine Mutter hat es dir sagen müssen, dass du ein Kind in dir trugst, du selbst hast es nicht erkannt.
Was machte es mit dir, unverheiratet ein Kind zu bekommen in einer Zeit, in der unehelicher Nachwuchs eine Schande darstellte?
Du hast mir oft erzählt, wie schrecklich das alles für dich war: das unbekannte Wesen in dir, mein Vater, der seinen Trieb befriedigt hatte, aber selbst haltlos war und soff wie ein Loch, den du keineswegs ehelichen wolltest, die hämischen Blicke der Kollegen, das Getuschel hinter deinem Rücken, die Schikanen deines Arbeitgebers, der sich als guten Christenmenschen sah wie all die anderen auch in diesem erzkonservativen Bistum.
Gab es auch mal einen Moment der Freude auf das heranwachsende Kind, vielleicht als ich anfing zu strampeln, ein bisschen Hoffnung auf ein gesundes Baby, nur einen flüchtigen, kurzen Augenblick?
Warum hast du versucht, mich loszuwerden, nicht einmal, sondern mehrmals, so dass deine Mutter dich schließlich ins Schlafzimmer eingeschlossen hat?
Du wusstest, du sollst nicht töten, aber was hast du empfunden, als ich überlebte?
Das von Nonnen geführte Hauptkrankenhaus hat dich weggeschickt, sie nahmen keine ledigen Mütter zur Entbindung auf.
So viele Demütigungen in dieser ach so strenggläubigen Gemeinde!
Meine Geburt verlief mit Komplikationen, aber endlich wurde ich mit kühlen Zangen aus meiner dunklen schützenden Höhle ins grelle Licht der Operationslampen des Kreißsaales gezerrt.
Sag mir, Mutter, nach allem, was du wegen mir erduldet hast, war es dir vergönnt, ein bisschen Freude zu spüren, dass ich als dein Kind gesund zur Welt kam? Hast du mich in den Arm genommen, meine Wärme gespürt, in meinem Gesichtchen nach deinen Zügen gesucht?
Ich weiß, du sprichst nicht gern über meine Geburt, aber du hast wiederholt gesagt, laut Hebamme hätte ich wie eine wunderschöne kleine Prinzessin ausgesehen, mit langen schwarzen Härchen, ungewöhnlich bei Neugeborenen, wie hast du mich gesehen?
Heute kümmere ich mich um dich. Du bist Mitte Achtzig, und nach dem Tod deines Mannes suchst du Schutz bei mir.
Nun gehst du gebeugt, versuchst, deine Ängste zu beherrschen, deine Einsamkeit.
Du stellst nicht in Frage, dass es meine Aufgabe ist, dass ich mich um dich kümmere. Du forderst vehement Nähe ein, eine Nähe, die wir in der Vergangenheit nicht gelebt haben:
Ich regle deine Angelegenheiten, rufe dich täglich an, manchmal mehrmals, ob ich selbst krank bin, im Urlaub oder was auch immer ich tue.
Du sollst Vater und Mutter ehren. Also ist es eine Selbstverständlichkeit, ja mehr noch, ein göttliches Gebot, für Eltern zu sorgen?!
Sollen Eltern ihre Kinder achten?
Kann ich als Mutter mit guten Gewissen verlangen, dass die Tochter im Alter die Elternrolle übernimmt, die Mutter hegt und pflegt, ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellt?
Du hast mich belehrt: eine Mutter ist der wichtigste Mensch im Leben!
Du hast es mir nicht verziehen, dass ich bei der Geburt meines ersten Kindes dessen Vater mit in den Kreißsaal nahm und nicht dich.
Frage ich dich nach meiner Entwicklung als Kind, weichst du aus mit der Feststellung: „Das ist doch alles schon so lange her!“
Du erinnerst dich nicht.
Selten lächelst du, wenn wir alte Familienfotos gucken.
Es kommt immer häufiger vor, dass du mich verwechselst, mich mit dem Namen von Schwester und Tochter ansprichst.
Wer bin ich für dich, Mama? Wer?
An manchen Tagen macht es mich ungeduldig und ärgerlich, wenn du im kategorischen Ton meine volle Aufmerksamkeit einforderst, um Dinge für dich zu tun, die du selbst erledigen könntest. Es liegt außerhalb deiner Vorstellung, dass ich dazu nicht verpflichtet bin.
Ich war schon immer die Tochter, die dazu bestimmt war, dir zu dienen, mit dem übergeordneten Auftrag:
Mach mir keine Schande!
Deine andere Tochter hast du von Anfang an geliebt, sie war die Quelle deiner Freude, deines Stolzes, und das fraglos, ohne Wenn und Aber.
Wie habe ich sie beneidet!
Aber kaum spüre ich meine negativen Gefühle dir gegenüber, erfüllt mich Scham, du sollst Vater und Mutter ehren, und ich komme erst dann wieder zur Ruhe, wenn ich etwas für dich getan habe, eine Selbstverständlichkeit nur.
Und ich ergreife deine schmale Hand, drücke sie und erzähle etwas Lustiges aus den Kindertagen.
Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.
Wir müssen loslassen, Mama, du und ich.
Wie auch immer die Vergangenheit war, sie ist vorbei.
Gehen wir noch ein kleines Stück Weg gemeinsam, in Frieden.
© Michaela Hinterscheid