Der Henkelmann

Die letzten Sommerferien der Grundschulzeit gingen zu Ende. Ich erhielt eine Zusage für die nächstgelegene Realschule. Meine Eltern konnten bei der Familientafel zufrieden feststellen, dass ihre Tochter nun bald eine „höhere Schule“ besuchen würde, und ich frohlockte im Stillen:

„Gott sei Dank, jetzt kriege ich neue Klamotten und endlich auch eine richtige Schultasche, und den ollen Ranzen schmeiß ich weg!“

Ich wusste, dass meine Eltern sich nicht blamieren wollten gegenüber „den Leuten“: ich war nun Realschülerin, da gehörte es sich, dass die Kinder neu eingekleidet wurden.

Natürlich zeigte ich mich froh über Mantel, Lederslipper und Tasche, aber mich erfüllten auch ein gewisses Unbehagen und die bange Frage, ob ich wohl neue Freundinnen finden würde. Ich tröstete mich damit, dass einige Mitschüler aus der Grundschule auf „meine“ Realschule wechselten, aber würden sie auch in meine Klasse eingeteilt? Oder stünde ich womöglich ganz allein da, weil sie in Parallelklassen kamen? Allein der Gedanke, nur von fremden Gesichtern umgeben zu sein, löste in mir Entsetzen aus.

Eines Tages machte ich es mir gerade bequem auf der schwesterlichen Schlafcouch und schlug den dicken historischen Schmöker auf, als die Tür geöffnet wurde – wie immer ohne Anklopfen – und meine Mutter erschien mit einem Henkelmann in der Hand. Sie warf mir einen missbilligenden Blick zu. Lesen galt als Faulenzen.

„Los, beeil dich, Michaela, bring Papa das Essen, er wartet schon, beeil dich!“

„Warum hast du das nicht früher gesagt, dass ich das heute machen soll?“ brummelte ich, die Hoffnung auf ein vergnügliches Lesestündchen verflog augenblicklich.

„Ach, egal, das Kochen hat heute länger gedauert, aber jetzt keine Diskussion, sondern nimm die Beine in die Hand!“

„Ich geh ja schon!“ stieß ich zwischen den Zähnen hervor, stürzte in den Flur, in die Schuhe, die Wohnungstür fiel krachend zu, dann stand ich auf der Straße.

„Du brauchst gar nicht so die Tür zu knallen!“ rief meine Mutter mir noch aus dem Küchenfenster gelehnt nach, ich aber gab Fersengeld und hastete durch das Dorf zum Arbeitsplatz meines Vaters. Er arbeitete in einer Ziegelei, die abseits am Ortseingang lag mit schlecht einsehbarer Zufahrtstraße. Um ein Haar wäre ich noch beim Überqueren der Hauptstraße überfahren worden! Puh, ich hatte mich mächtig beeilt, ich atmete heftig, und meine Schritte verlangsamten sich ein wenig, als ich das Betriebsgelände erreichte.

Da gewahrte ich die Gestalt meines Vaters, die mir entgegenkam.

Ich lief auf ihn zu, am ausgestreckten Arm den Henkelmann schwenkend und rief: „Es gibt Kartoffelpüree und Bratwurst!“

Ich dachte, er würde sich freuen, mich zu sehen, wo die doch so schnell gerannt war, und er mochte dieses Essen, das wusste ich.

Mein Vater kam lächelnd auf mich zu.

„Hier, Papa, ich…“

Weiter kam ich nicht mit diesem Satz, denn er schlug mir mit seiner grobknochigen Hand so schwer ins Gesicht, dass es sogleich rot anlief und brannte. Der Schlag war derart heftig, dass ich einen Schritt zur Seite taumelte. Zwar wollte ich mir den Schmerz verbeißen, aber die Tränen schossen mir in die Augen, und ich stammelte: „Was habe ich denn getan?“ Mein Blick verharrte am Boden.

„Das fragst du noch? Die Mittagspause ist fast vorüber, und ich kann wegen dir nicht mal mittags in Ruhe essen!“

Ich stand wie angenagelt.

Endlich, endlich drehte er sich um und verschwand hinter der Kurve.

Erst als ich wieder allein auf der Straße stand, holte ich tief Luft und machte mich ohne Eile auf den Nachhauseweg. Kurz bevor ich in unsere Wohnstraße abbog, blickte ich prüfend in das Schaufenster des Supermarktes, ob der Abdruck der Ohrfeige noch sichtbar war.

Glücklicherweise begegnete ich niemandem.

 

© Michaela Hinterscheid