Fragen an den…

Frage an den repräsentativen deutschen Autor G.G.
im fünften Jahr der deutschen Einheit

Sehr geehrter Herr G.,

ehe ich meine eigentliche Frage stelle, muss ich ein wenig ausholen. Wissen Sie, was eine Westtante ist? Eine Westklamotte, ein Westauto, eine Tüte Westkaffee waren?

Wussten Sie, dass ein schmales Taschenbuch aus Ihrer Feder, welches in Danzig spielt, mein erstes Westbuch war? Bis dahin hatte ich, obwohl schon drei Jahre an einer Bibliothekarsschule im Osten, noch nie ein Buch von einem Autor aus dem Westen in der Hand gehabt. Ich hatte keine Westtanten und keine Westklamotten, weil meine Eltern sich an die Weisung ihrer Partei hielten und nach 61 den Kontakt zu den Verwandten im Westen abbrachen. Ich besaß nicht das klitzekleinste Büchlein aus dem Westen, nicht einmal ein MickyMausHeft.

Auf meiner ersten Auslandsreise, 68 nach Ungarn, gab ich ein Drittel meines langersparten Reisegeldes für ein Buch aus, für ein Buch aus dem Westen. Für ein schmales Taschenbuch aus Ihrer Feder. Ich hatte schon gehört von Ihnen und auch von Böll und von Walser. Einige Namen waren bekannt. Andere nicht. Von Uwe Johnson hörte ich 1990 zum ersten Mal. Pippi Langstrumpf, kleine Ausgabe, schickte mir 81 eine Studienfreundin, die in den Westen gegangen war, da wurde ich sechsunddreißig. Mein erstes schwedisches Wörterbuch zum Übersetzen, beruflich, bestellte ich mir im gleichen Jahr bei der Schwedischen Botschaft in Ostberlin. Das war nicht leicht, und ich wusste, dass spätestens jetzt ich erfasst sein würde von jener Behörde, die alle erfasste, die eine Westbotschaft aufsuchten.

Ihr schmales Büchlein, jenes, das auch von Danzig handelt, hatte mir sehr gefallen. Sie können nicht wissen, Herr G., dass auch ich eine Beziehung zu Danzig habe. Nicht nur wegen der Solidarnosc und Walesa. Mein Vater ist, wie Sie, in Danzig geboren. Vielleicht sind Sie bei meinem Großvater in die Schule gegangen? Er ist 46 in Greifswald verhungert. Obwohl er auch da, bereits Pensionär, noch Kinder unterrichtete.

Das schmale Bändchen von Ihnen habe ich geliebt. Weil es in Danzig spielt – im Osten gab es keine Bücher, die in Danzig spielten. Weil es der repräsentative (und damals progressive) deutsche Autor G.G. geschrieben hatte und weil es mein einziges Westbuch war. In Ungarn gekauft, für viele Forints. Es ist mir erst in den 80ern abhanden gekommen. Vermutlich geklaut. Von einem, der für die „Firma“ arbeitete. Ich hab da so einen Verdacht.

Warum nur, Herr G., um nun meine eigentliche Frage zu stellen: Warum sind S i e eigentlich nie in den Osten gekommen? Nicht nur so zu Lesungen. Abgeschirmt vor ausgesuchtspontanem Publikum. Ich meine, ganz richtig, so wie Hunderttausende vom Osten in den Westen. Wenn einer wie Sie, der den Osten so geliebt hat, ihn immer so schön gemütlich, so schön altmodisch, so schön einfach gefunden, gekommen wäre…

Wenn einer wie Sie und andere wie Sie, die heute so hurtig in den OstPen gewandert… Wenn Sie und die andern schon damals, schon damals gekommen wären… Das hätte uns Mut gemacht! Damals. Dann hätten wir den Osten vielleicht ein bisschen besser gefunden und den Westen ein bisschen schlechter, weil einer wie Sie ihn verlassen hat.

Vielleicht hätten wir mit Ihnen noch ein bisschen weitergemacht, mit dem Sozialismus im Osten. Aber heute? Heute ist es zu spät. Zu spät für Sie, zu spät für uns. Wir hören da nicht mehr hin, wenn einer sagt, wie nett er den Osten damals gefunden, bei einer Lesung vor ausgesuchtspontanem Publikum. Und auch die Spitzel seien gar nicht so übel gewesen…

Ich weiß nicht, verehrter Herr G., wie schon gesagt, habe ich mir 68 ein Buch von Ihnen aus Ungarn besorgt und auf dem Rückweg bei jeder Grenzkontrolle geschwitzt vor Angst. Herr G., es ist uns heute egal, wie gut Sie uns früher fanden. Es ist ohnehin zu spät. Und Sie, Herr G., waren doch nie wirklich da.

Wissen Sie, wie demütigend es ist, einer ehemaligen Studienkollegin, die durch seltsame Umstände in den Westen gekommen, vom schmalen Ostgehalt massenhaft Schallplatten und Noten zu schicken für ein einziges PippiLangstrumpfBuch, kleine Ausgabe?

Und noch etwas verehrter Herr G. Ich hab‘ Sie sogar persönlich erlebt. Kurz nach der Wende. Auf einer Lesung in Berlin. Literaturhaus Fasanenstraße. Da musste ich hin. Sie verstehen, Ihr Buch. Damals von Danzig. Sie haben eine angenehme Lesestimme. Ich hörte Sie lesen, als Ihr vorletztes Buch erschienen war. Vorher sprachen Sie so nett über die Bürgerbewegungen im Osten. Schon damals. Schon damals begann ich zu zweifeln. An Ihnen. Als Sie die Namen der Bürgerbewegungen durcheinander brachten.

Dabei, und das kommt vom Herzen, hätte ich Ihnen so gerne geglaubt. Schon wegen Danzig und wegen dem schmalen Bändchen, das ich gehütet in meiner Jugend. Sie wissen.

Mit achtungsvollen Grüßen

Rosi L., Leserin aus dem Osten

Rosi L. schickte den Brief mit einjähriger Verspätung ab. G.G., repräsentativer deutscher Autor, hat ihre Frage nicht beantwortet.

© Sybille B. Lindt