Hanno im Nimmerland

„Gut, dass wir bei dem Bungalow nicht zugegriffen haben. So groß und viel zu teuer.“ Papa scheint tief Luft zu holen, jedenfalls entsteht eine kurze Pause. „Und dann so weit draußen. Da kommst du mit den Kindern ohne Auto gar nicht weg.“

„Was redest du plötzlich wieder von dem Haus? Das Thema war doch längst erledigt.“ Mama hört sich ärgerlich an.

„Ich war heute beim Arzt.“ Papas Stimme klingt jetzt seltsam fremd.

Hanno bleibt vor der spaltbreit geöffneten Wohnzimmertür stehen.

„Das Herz ist geschwächt, er meinte, es hätte die Leistung von einem Mann Mitte sechzig. Ich hatte wohl schon mal einen leichten Infarkt.“

„Und da kann man gar nichts machen?“

„Was die Kameraden Ärzte immer gerne vom Stapel lassen; mit dem Rauchen aufhören, weniger arbeiten, mehr Bewegung.“

„Lass‘ dich mal in die Uniklinik überweisen, damit die dich dort richtig untersuchen, der Schlegelmilch ist nur ein Wald- und Wiesendoktor, der kann doch gar nicht…..“

„Da war ich heute, Anneliese.“ Papas Stimme ist fast verschwunden.

„Du warst in der Uni?“ So klingt Mama sonst nur, wenn sie nach drei Etagen mit Einkaufstüten bepackt die Wohnungstür aufschließt.

„Ich habe nicht mehr viel Zeit.“

„Ich verstehe das nicht. Was soll das bedeuten?“ Dann ist es still. „Wie lange noch?“, haucht sie schließlich.

„Drei Jahre, vielleicht vier.“

Hannos Herz pocht. Sein Körper hatte seit dem Nachmittag geglüht, aber jetzt auf dem Flur beginnt er plötzlich zu zittern. Das ist Schüttelfrost. Der kommt von den Windpocken, hatte der Arzt gesagt. Die hat er sich in der Schule geholt, hat Mama am Telefon Oma Gerda erzählt. So’n Schiet!

Jetzt steht Mama auf und nähert sich dem Türspalt. Hanno fällt das Glas aus der Hand und landet auf dem Teppich. Gott sei Dank, es bleibt heil. Schnell hebt er es auf und durcheilt auf Zehenspitzen den kurzen Flur bis zur Küche. Es ist fast dunkel, aber er macht kein Licht. Als er mit dem vollen Glas in sein Zimmer zurückbalanciert, ist die Wohnzimmertür geschlossen.

Er kuschelt sich wieder in seiner Decke zurecht. Im Bett nebenan atmet die kleine Schwester ruhig und gleichmäßig. Im Schein der Nachttischleuchte sieht er ihre flachsblonden Haare auf dem Kissen ausgebreitet, Arme und Beine ragen unter der Decke hervor. Unter seinem Plumeau weicht die Kälte langsam einer schönen feuchten Wärme. Vielleicht war alles nur ein Traum, wenn man Fieber hat, träumt man manchmal seltsame Sachen. Morgen wird er Oma fragen. Sie kennt sich mit Träumen aus. Hanno schließt die Augen, aber der Schlaf will nicht kommen.

Plötzlich steht er wieder im Flur. Wie gut, dass ihm eingefallen ist, wie er Papa helfen kann. Ins Elternschlafzimmer sind es nur ein paar gehuschte Schritte. Wie kühl es hier ist! Auf dem Nachttisch klappt hinter dem Plastikfenster des orangefarbigen Weckers jede Minute eine neue Ziffer nach oben. Alle zehn Minuten sind es zwei, zur vollen Stunde drei, um zehn Uhr morgens und 20 Uhr abends vier. Hanno wartet das abendliche Viererklicken ab, dann dreht er am kleinen Knopf auf der linken Seite des Gehäuses und schleicht zurück in sein Bett. Jetzt ist er sich ganz sicher: Eben im Wohnzimmer war Krimistunde! Nicht oft erlauben ihm die Eltern, den „Kommissar“ zu sehen, aber er hat die Stimme sofort erkannt. Der Mann im Wohnzimmer war Kommissar Keller und Hanno erinnert sich auch wieder an das bläuliche Flackern des Fernsehers durch den Türspalt. Oder war es doch nur ein Traum?

Am nächsten Morgen weckt ihn Papas Stimme auf. „Ich habe den Wecker extra auf halb sieben gestellt!“ Er klingt ärgerlich und gehetzt. „Jemand muss daran herumgespielt haben. Ausgerechnet zur Monatsbesprechung muss ich zu spät kommen!“ Seine Stimme geht im Geschirrklappern fast unter.

Mama beruhigt ihn: „Nun mal langsam, dann warten die eben mal auf dich.“

„Hast du eine Ahnung! Die fangen um neun an und ich muss noch ein paar Unterlagen zusammensuchen.“

Ein komisches Wort. Es klingt wie die Moltonunterlage im Kinderbett der Schwester. Für sie ist es eine Unterlage aber für die Matratze eine Auflage. Und der Dieb beim Kommissar kürzlich – war der nicht unter Auflagen aus dem Gefängnis entlassen worden? Papas Schritte kommen aus der Küche. Verstummen. Bestimmt bindet er sich jetzt vor dem Flurspiegel die Krawatte.

„Dann fangen sie eben mal ohne dich an“, wirft Mama ein. „Du musst kürzertreten, da hilft alles nichts.“

Hannos Lider werden schwer und Papa sucht wieder seine Krawatte. Der Bungalow ist einfach zu groß, nichts findet man wieder, klagt die Mutter. Gerade will er gehen, aber da fehlen plötzlich die braunen Wildlederschuhe, jemand hat sie versteckt. Ich wurde unter Auflagen aus der Klinik entlassen, sagt Kommissar Keller. Mama lässt ihn nicht ausreden: Zieh‘ die schwarzen Schuhe an, die passen zum Anzug. Dann ist Papa ganz schnell durch die Tür. Niemand hat etwas gehört, kein Wunder, der Mann hat sich auf Socken davongeschlichen, gibt die Nachbarin zu Protokoll.

Mittags kommt Oma Gerda. Sie hat keine Zeit, den Mantel auszuziehen, sondern muss direkt zu Hanno in die Küche kommen.

„Oma, manchmal hört man doch Sachen, die niemand gesagt hat, oder?“ Hanno schiebt sich die letzte Gabel Wurzelgemüse in den Mund und vergisst vor Aufregung das Schlucken.

„Ja, im Fieber und auch im Traum erlebt man seltsame Dinge. Wie im Nimmerland.“ Oma klingt sehr ernsthaft.

„Nimmerland?“

„Das Fantasieland der Kinder.“ Sie kramt in ihrer Handtasche und zieht ein altes Buch hervor. „Das habe ich schon deinem Papa vorgelesen und der hatte es von deinem Opa.“

Hanno hat noch nie so ein altes Buch in den Händen gehalten. Aber komisch: Obwohl er schon das ganze Alphabet in Schreibschrift und sogar die Druckschrift kennt, findet er auf dem Buchdeckel kaum einen vertrauten Buchstaben.

„Ist das die Schrift von Nimmerland?“

„Ja“, sagt Oma Gerda geheimnisvoll, „sie heißt Fraktur. Nur wenige können sie lesen. Aber erstmal kümmern wir uns jetzt um deine Windpocken.“ Sie taucht zwei Handtücher in kalten Kamillentee und umwickelt seine Unterarme damit. Das hilft gegen das Jucken. Und jetzt ab ins Bett!“

Hanno lehnt sich behaglich in die Kissen zurück und Oma beginnt zu lesen. Plötzlich ist es Nacht und er wird von Peter Pan auf die Insel Nimmerland geholt, wo er Feen, Indianer und Piraten trifft und aufregende Abenteuer erlebt. Er nimmt sich fest vor, die Nimmerlandschrift zu lernen, damit er, wann immer er will, dorthin reisen kann.

© Susanne Wirtz